Mondschwingen (German Edition)
sehr, um vom Boden abzuheben. Vielleicht waren sie nur ein paar Schritte
entfernt.
Doch es wurde dunkel und die Gefahr beim
schwindenden Tageslicht vom Weg abzukommen, war zu groß. In den schmalen Höhlen
am Wegrand schlugen sie ihr Nachtlager auf. Es tropfte von der Decke, das
rhythmische Klopfen hörte man die ganze Nacht.
Rubens hätte so gerne geschlafen, doch er
konnte nicht. Dafür war seine Angst vor der kommenden Jagd zu groß. Wenn es
Kinder waren, die gestohlen hatten, oder Frauen, oder Elstern, die dazu
gezwungen worden waren ...
Er war noch immer nicht müde, als er die
Schritte hörte. Sie kamen von draußen, wo es nicht zu schneien aufhörte. Es
waren leise Schritte, kaum zu hören in dem Meer aus Atem. Rubens schlug die
Augen auf und sah zum Ausgang. Ein Umriss erschien vor dem sternlosen Himmel.
„Wer ist das?“ Garlows Stimme war fast
nicht zu hören. Vorsichtig richtete er sich auf und sah zum selben Fremden, der
sich kaum abhob in all dem Schneegestöber.
„Ich
weiß nicht“, wisperte Rubens. „Aber ich befürchte, niemand, der Gutes im Sinn
hat.“
Augen schimmerten unter einer schwarzen
Kapuze, Metall blitzte auf, undeutlich war das Schwert in seiner Hand zu sehen.
Der Fremde winkte der Nacht hinter sich zu und wartete auf die ersten Schemen,
die angepirscht kamen. Schritt für Schritt krochen sie von hinten dem
Kapuzenmann entgegen.
Lautlos hob einer nach dem anderen von
ihnen ab, wie eine Wand aus Schatten, und schoben sie sich ihren Feinden
entgegen.
SVIJA
und die Fliegende Burg
Schon von weitem sahen sie die Zinnen
hinter den Bäumen. Die Fliegende Burg, die hinter dem Wald über dem
Molmsund-See erschien, war so mächtig, dass Svija kaum ihren Augen trauen
konnte. Wie viel Magie, fragte sie sich, benötigt man, damit eine so gewaltige
Festung fliegen kann?
„Euer neues Zuhause.“ Toiva sah ein bisschen
stolz aus, als sie das sagte. „Sie sieht ein bisschen protzig aus, finde ich. Aber
eigentlich ist sie gar nicht so übel.“
Weder Svija noch Linus sagten etwas. Svija
hatte nie ein neues Zuhause gewollt, erst recht nicht dieses hier - und Linus? Linus war sich wohl nicht sicher,
ob er nun froh sein sollte oder nicht.
Stumm und starr lief er neben Svija, hatte
das Gesicht hinter seinem Mantelkragen verborgen. Obwohl das Mädchen den
blonden Jungen mochte, der meistens sehr still war, fiel es ihr manchmal doch
schwer, ihn zu mögen. Er gehörte in diese Welt, nicht in ihre. Er war ein
fester Teil von all dieser Kälte und dem Schnee und dem Angst im Rücken und sie
war es eben nicht. Sie gehörte in den Sommerwald und nirgendwo sonst wollte sie
leben.
Nachdem sie heute Morgen aufgebrochen
waren, hatte ihnen Toiva von Liv und von Skopenvang erzählt.
Dass es eine Menscheninsel war und dass die
Königin Liv dort residierte, mitten auf dem Molmsund-See, damit keine Mondschwingen
zu ihr gelangen konnten. In Wirklichkeit taten sie das natürlich doch, wenn sie
nur lautlos genug waren. Es waren viele Spione, die die Menschenkönigin
beschatteten und sie erzählten wenig Gutes über sie.
Hinter den Bäumen erschien der
Molmsund-See, groß und grau wie der Himmel darüber. Svija hatte in ihrem ganzen
Leben keinen größeren See gesehen. Im Sommerwald hatte es nur einen schmalen
Fluss und einen Tümpel gegeben, über dem nachts die Glühwürmchen tanzten.
Wenn man zum Horizont schaute, sah man
nichts als Wasser und dahinter Unendlichkeit.
„Man
munkelt, dass in den Tiefen des Molmsund-Sees uralte Kreaturen hausen, die nur
auf Frischfleisch warten.“ Toiva lachte und hob vom Boden ab. Der Wind zerrte
an ihr, man hörte ihn flüstern.
Linus sah Svija an und sie erkannte, dass
es ihm nicht gut ging. Vielleicht war ihm die Burg zu hoch, deren Türme in den
Wolken versanken. Mondschwingenbanner zappelten an den Dächern, schwarze Federn
auf weißem Grund.
Sie fasste Linus‘ Hand und drückte sie
fest.
Wir schaffen das , hätte sie am liebsten gesagt, während sie
so dastanden. Linus hatte ihr das gestern zugeflüstert und nun war sie es, die
ihm Mut gab. Wir schaffen das ... Vielleicht waren sie schon Freunde,
nur dass Svija es noch nicht bemerkt hatte.
„Ich
weiß nicht, ob ich überhaupt auf die Fliegende Burg will. Mein Vater hat damals
alles für Einar getan, für Einar und die anderen Elstern. Trotzdem nannte man
ihn irgendwann Verräter, er musste die Burg verlassen.“ Linus stockte. Nun war
er tot, sein Vater.
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