Mondschwingen (German Edition)
nicht. Und doch beruhigten sie Svija ein kleines bisschen.
Jorda stand vor ihnen, wie eine
schattenhafte Krähe. „Wenn er stirbt, dann soll er sterben. Wir haben uns genug
um ihn gekümmert, mehr können wir nicht mehr tun. Jetzt ist er an der Reihe. Er
und niemand sonst. Entweder er wacht auf oder er schläft weiter.“
Amber nickte schnell, demütig sah sie dabei
aus. „Das wissen wir doch.“
Svija hätte sie am liebsten an den Haaren gezogen.
Gar nichts wussten sie. Vielleicht waren die Weglosen ja doch nicht so
freundlich gesinnt, wie Amber es glaubte. Sie vertrauten irgendwelchen
dahergelaufenen Pfeilwerfern.
Wortlos lief Svija davon, sie verkroch sich
im Geäst eines hohen Baumes, weit oben, in der Nähe von Linus. Sie konnte ihn
von hier oben sehen, schwarz und starr.
Jetzt weinte sie, weinte bitterlich. Wäre
Toiva damals nie gekommen, Toiva, diese Närrin! Svija hätte weitergelebt im
Sommerwald, für immer, in behaglicher Wärme, mit einem Bach hinter dem Haus,
mit Früchten auf den Bäumen, mit Büchern auf dem Dachboden.
Aber Gwaedja … sie wäre wohl dennoch
gekommen. Und mit ihr auch die Sternenjäger. Womöglich war all das hier so
etwas wie Schicksal, ein kleiner Auszug aus einem Puppentheater, das das
Schicksal an seidenen Fäden in die Höhe hob.
Die Tränen kitzelten sie an der Nase. Linus musste sterben und sie
selbst war daran ein bisschen schuld. Ohne sie wäre er niemals hierher
gekommen. Jetzt lag er da und rückte Stück für Stück ein wenig weiter fort. Sie
würde ihn vermissen, das wusste sie. Weil sie etwas fühlte, etwas
Absonderliches.
Sie
erinnerte sich an gestern, an den flüchtigen Kuss, Lippen an Lippen, sie hatte
seinen Atem gespürt. Sie hatte davon in manchen Büchern gelesen, Liebe nannten
sie das. Es schmerzte manchmal und nun schmerzte es mehr als ihre zwei Wunden,
sehr viel mehr. Eine Liebe, die von Anfang an verdammt gewesen war – so hätten
sie es genannt, all die Bücher in den Regalen, die Geschichten über zwei Liebende.
Keine davon war gut ausgegangen.
Linus starb am nächsten Morgen.
Es war noch dunkel, als die Tränensänger
kamen. Sie konnten die Tränen der Trauernden riechen, sagte man. Sie saßen in
den Kronen und wollten endlich weinen.
Svija schlief nicht gut, wachte immer
wieder auf, schaute sich um und schloss wieder die Augen.
Das Klagen der Tränensänger begann ganz
unerwartet. Sie schrien laut und sangen hässliche Lieder, viel zu schief und
schrill. Svija riss die Augen auf und sie wusste, was geschehen war. Sie saß da
und wollte sich nicht bewegen, für immer da sitzen und sich die Ohren zuhalten.
Etliche Weglose strömten zu Linus.
Sie
versammelten sich um ihn herum, mehrere Momente war da nichts als stilles
Hoffen und Warten.
„Er ist tot“, rief einer und richtete sich
auf. „Wir schaufeln ihm ein Grab und brechen noch vor Sonnenaufgang auf.“
Die Hände hatten sie ihm auf den Bauch
gelegt, die eine auf der anderen. Sein blondes Haar war glatt, Schneeflocken
hatten sich darin verfangen und zitterten im Wind.
Dicht an dicht standen die Weglosen und
schauten zu dem Toten und dem rothaarigen Mädchen. Sie sagte nichts, kein
Abschiedsgruß, überhaupt nichts. Was sollte sie schon sagen? Zu spät für jedes
Wort.
Es war ein stilles Begräbnis.
Sechs Weglose trugen ihn zum
ausgeschaufelten Grab. Er war in große, weiche Tücher gewickelt, die die
Weglosen immer für Tote mit sich trugen. Nur sein Gesicht und seine Hände
schauten heraus, sie waren genauso bleich wie das Tuch. Er verschmolz auf dem
Weg zum Grab mit dem Schnee im Hintergrund.
Die Laternenlichter auf den Bäumen
flackerten, doch die Dämmerung, die Dunkelheit blieb.
Svija stand stumm da, spürte die Flocken
auf ihrer Haut, die mit den Tränen auf ihrer Wange verschmolzen. In jenem
Moment hasste sie sich. Dafür, dass sie hier stand und ihm hinterher schaute
und nichts tat.
Die Weglosen hatten tief gegraben. Kein
Tier sollte ihn riechen, vor allem keine Krallwüter, die ihm ohnehin schon den
Tod gebracht hatten.
Linus wurde vorsichtig in die Grube gelegt,
ein loses Tuch wirbelte noch im letzten Moment hervor und verschwand zwischen
den Bäumen.
Die Männer schaufelten Erde ins Grab. Stück
für Stück für Stück verschwand Linus. Ein weißes Bild, auf dem sich
Weitere Kostenlose Bücher