Mondschwingen (German Edition)
Einen Moment lang überlegte Svija ihre
Ellenbogen zu gebrauchen und zu fliehen. Doch da sah wieder die Waffe in der
Hand des Mannes und sie entschied sich anders.
„Setz dich hin und kletter runter.“ Mit der
Schuhspitze öffnete Tunk die Luke. Ein schwarzes Loch gähnte ihnen entgegen.
„Nun mach schon oder ich muss nachhelfen.“
Tunk packte sie am Nacken.
Eilig steckte Svija einen Fuß durch das
Loch und tastete nach der obersten Leitersprosse. Sie klammerte sich an der
Luke fest und ließ sich zögerlich hinab. Mit zitternden Beinen kletterte sie
hinunter, Sprosse für Sprosse. Der Boden kam unerwartet und mit ihm auch die
raue Stimme.
„Wieder
mal ‘n neuer Gast. Wunderbar, ganz wunderbar.“
Svija
drehte sich um und schaute in das Gesicht einer alten, plattnasigen Frau.
„Ihr
hattet Pech, schätze ich . Nicht viele treiben sich
nachts in der Nähe der Luke herum. Thijs ist unerbittlich, was das angeht, ja,
das ist er. Die meisten der Unglücklichen sperrt er in die Kerker.“ Ihre
glasigen Augen musterten Svija. „Er ist richtig versessen, den Jägern eins
überzubraten. Sie sind unsere Feinde, Schätzchen. Zu wem gehörst du?“
Die
anderen drei waren schon unten angekommen, Wig schob Svija weiter. „Das werden
wir sehen, Unna. Wir bringen die Mädchen zu Thijs.“
Sie waren in einem Gang, einem langen und schmalen. Fackeln hingen alle paar
Schritte an den Wänden, dazwischen waberten tanzende Schatten.
„Die zwei gehören nicht zu den Jägern. Das
rieche ich, ich rieche und schmecke es“, rief Unna ihnen hinterher und verkroch
sich hustend in die Schatten zurück.
„Wir sollten sie verbuddeln, die Alte. Die
spinnt. Die sitzt den ganzen Tag unter der Leiter und singt grässliche Lieder.“
„Du schämst dich ja nur für sie.“ Wig
zwinkerte den Mädchen zu. „Sie ist seine Großmutter.“
Es war beklemmend eng hier in dem Gang.
Svija wäre so gerne zurückgerannt, zurück zur Leiter, zum Grasmeer zurück. Der
Himmel über ihr fehlte ihr schon jetzt.
„Wer seid ihr?“ Amber lief so dicht neben
Svija, dass sich ihre Arme berührten.
„Das dürfen wir nicht sagen. Noch nicht.“
Tunk grinste. „Viel wichtiger ist, wer ihr seid, liebe Damen. Entweder ihr seid Menschen oder Elstern. Später müsst ihr
euch für eines entscheiden. Todesurteil oder nicht. Thijs wird sich freuen.“
„Hör auf damit.“ Wig lief ein bisschen
schneller und zerrte Amber mit sich.
Thijs … irgendwoher kannte Svija den Namen,
sie wusste nur nicht mehr woher.
Eine Tür war am Ende des Tunnels zu sehen,
eine hölzerne Flügeltür. Die zwei Männer liefen jetzt noch schneller, die
Mädchen rannten fast. Wig riss die Türen auf, schaute sich zu Amber und zu
Svija um und verkündete grinsend: „Willkommen in den Höhlen der Weißen.“
Steinerne Säulen ragten in die Höhe,
dutzendfach, hundertfach, wie ein Heer versteinerter, spindeldürrer Riesen. Sie
waren nicht glattgemeißelt und nicht verziert, es war kein Werk von Menschen,
sondern von der Höhle selbst. Überall waren Lichter, goldfunkelnde Laternen in
der Finsternis.
Die Höhle war von zahlreichen Schluchten
durchzogen, über die Brücken ohne Geländer führten.
„Das ist die größte der vier Höhlen“, sagte
Wig, er klang ein bisschen stolz. „Hier leben die meisten Weißen.“
„Weiße?“ Amber trat an Svijas Seite, damit sie
die gesamte Höhle überblicken konnte.
„So nennen wir uns. Weiß ist die Unschuld,
weiß ist die Wahrheit, weiß ... ist der blütenreine Tod.“ Seine Augen funkelten
belustigt, doch er klang noch immer ernst.
„Halt die Klappe, Wig“, brummte Tunk „oder
willst du ihnen gleich alle Geheimnisse erzählen?“
Schweigend liefen sie weiter, über die
ächzenden Brücken, an den Säulen vorbei. In den Schatten tauchten Gestalten
auf, ihre Augen blitzen im Zwielicht auf.
Am Ende der Höhle baute sich eine Treppe vor
ihnen auf und führte zu einem geöffneten Tor. Svija stieg mit schweren Beinen
empor, während Tunks Hand sie weiter vorwärts schob.
„Manchmal verbringt This dort mehrere Tage,
ohne dass ihn jemand zu Gesicht bekommt. Es sind schwierige Zeiten für ihn.“
„Sind sie das nicht für uns alle“, murmelte
Wig und stieg als letzter des Zuges die Stufen hinauf.
„Ja“, flüsterte Tunk „ja, das sind sie
wohl.“
Nun würde sich entscheiden, ob sie noch
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