MondSilberLicht
soll das heißen, du bist nicht wie ich?“
Ein äußerst schlechtes Gefühl beschlich mich. Hier lief etwas falsch, völlig falsch.
„Bitte“, flehend sah er mich an. „Mach es mir nicht noch schwerer, als es ist.“
Heftig atmend versteifte ich mich vor Furcht. Da legte er einen Arm um mich und zog mich an sich.
„Die Schotten nennen unser Volk die Shellycoats“, flüsterte er mir ins Ohr und vergrub sein Gesicht in meinem Haar. Seine plötzliche Nähe verwirrte mich vollends. Mein Herz raste.
„Es gibt viele Namen für uns. Wir selbst bezeichnen uns als Wassermänner.“
Shellycoats, was sollte das denn sein? Ich wollte ihn gerade fragen, da wurde eine Erinnerung in mir wach.
Das Lagerfeuer, die Wälder, der See und die Geschichten meiner Mutter. Wie oft hatte sie mir von den Shellycoats erzählt, einem uralten Elfengeschlecht. Wassermänner, die in den Vollmondnächten an Land kamen, um zu tanzen. In den Legenden lebten sie in Palästen tief auf dem Grund der schottischen Seen. In den Nächten, die sie an Land verbringen durften, lockten sie Jungfrauen aus den umliegenden Dörfern ans Ufer und zogen sie mit sich hinab.
„Sie sind wunderschön“, hörte ich die Stimme meiner Mutter in meinen Gedanken, „ihre Haut schimmert silbern im Mondlicht. Ihre Haare locken sich um ihre Schultern und in ihren Augen spiegelt sich die See.“
Ich liebte diese Geschichten, aber sie machten mir auch Angst. Sie handelten immer von unerfüllter Liebe und Leid. Als Kind hatte ich nur die Hälfte verstanden, aber das waren die Märchen, bei denen meine Mutter grundlos weinte.
Erschrocken sah ich ihn an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Langsam löste ich mich aus seiner Umarmung. Er versuchte mich festzuhalten.
„Aber du siehst aus wie ein Mensch. Du fühlst dich an wie ein Mensch“, stammelte ich.
Nein, das war falsch, fiel es mir in diesem Moment wie Schuppen von den Augen und ich wusste, dass er die Wahrheit sagte. Er fühlte sich anders an als jeder Mensch, den ich bisher berührt hatte. Alles an ihm war intensiver, strahlender. Und mir wurde klar, dass ich vom ersten Moment an gespürt hatte, dass er nicht wie ich war.
Er beobachtete mich mit einem wachsamen Blick.
Ganz langsam begriff ich, verstand, was Ethan meinte, verstand die Geschichten meiner Mutter.
Wunderschöne Wassermänner, die die Jungfrauen der Menschen verführten, Kinder mit ihnen zeugten und die Frauen dann ertrinken oder vor Kummer sterben ließen.
Das, was ich als Schauergeschichten für Lagerfeuerabende abgetan hatte, wurde schreckliche Realität.
Das war völlig absurd. Es machte mir Angst.
Die Schönheit des Sees war verflogen. Plötzlich sah ich nur noch die dunklen Schatten der Bäume, die in der Dämmerung immer näher kamen. Und ich wusste, dass es die Wahrheit war. Ich konnte nicht klar denken. Was würde er mir antun? Weshalb war er mit mir hierher gegangen, ans Wasser? Ich wollte fort. Weg von ihm.
Ich stand auf und sah in seine Augen, die plötzlich ganz hell wurden. Er trat näher an mich heran, doch ich wich zurück, so dass er stehen blieb.
„Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten, Emma.“ Seine Stimme klang traurig.
„Egal, was du tust“, sagte er dann eindringlich. „Du darfst es niemandem erzählen. Das musst du mir versprechen. Es ist wichtig, verstehst du?“ Flehend sah er mich an. „Es ist gefährlich für dich, es zu wissen.“
Ich nickte. Er streckte die Hände nach mir aus, als ob er mich festhalten wollte. Doch ich ging einige Schritte rückwärts, drehte mich um, lief und lief. Ich musste fort von hier, fort von ihm.
Bree stand im Flur, als ich aufgelöst ins Haus stürzte. Sie zog mich aufs Sofa, hielt mich fest und schwieg. Es dauerte eine Weile, bis ich mich beruhigt hatte. Doch sie ließ mich nicht los und wiegte mich wie ein kleines Kind in ihren Armen.
„Ist es besser?“, fragte sie besorgt, als meine Tränen versiegten.
Ich schniefte und nickte.
„Ich mache dir eine heiße Schokolade.“
Bei dem Gedanken an so etwas Profanes, Tröstliches musste ich lächeln. Dankbar sah ich ihr nach, als sie in die Küche ging.
„Ich mache meine Hausaufgaben“, erklärte ich, nachdem ich meine Schokolade ausgetrunken hatte.
„Du warst bei Calum, oder? Möchtest du darüber reden?“
„Nein, lieber nicht. Aber du kannst Ethan ausrichten, dass ich mich an seine Regeln halten werde.“
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schaltete die kleine Lampe an. Was sollte ich jetzt tun? Die letzten zwei Tage
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