Mondspiel: Novelle (German Edition)
bezaubern, hypnotisieren und Tausende von Menschen in seinen Bann ziehen. Seine Stimme war eine mächtige Waffe, und Jessica war schon immer anfällig dafür gewesen.
Sie umklammerte das Geländer und stieg zu ihm hinauf. Er erwartete sie am oberen Ende der Treppe. Es betrübte sie zu sehen, dass er sich umgezogen hatte und jetzt ein langärmeliges weißes Hemd trug, das seine vernarbten Arme verbarg. Ein Paar dünne schwarze Lederhandschuhe bedeckte seine Hände. Er war schlanker als früher, vermittelte aber immer noch den Eindruck von immenser Kraft, die sie so lebhaft in Erinnerung hatte. Seine Bewegungen waren anmutig und zeigten sein rhythmisches Gespür. Er schritt nicht über eine Bühne, er schwebte. Er war nur neun Jahre älter als sie, aber in sein Gesicht waren Falten des Leidens gemeißelt und seine Augen spiegelten tiefen inneren Schmerz wider.
»Dillon.« Sie sagte seinen Namen. So viel mehr stieg aus der Asche ihrer gemeinsamen Vergangenheit auf, so viele Worte, so viele Gefühle. Sie wollte ihn in ihren Armen halten, ihn eng an sich ziehen. Sie wollte die Hände nach ihm ausstrecken, doch sie wusste, dass er sie nicht anrühren würde. Stattdessen lächelte sie und hoffte, er würde sehen, was sie empfand. »Ich bin so froh, dich wiederzusehen. «
Ihr Lächeln wurde nicht erwidert. »Was hast du hier zu suchen, Jessica? Was hast du dir dabei gedacht, die Kinder herzubringen?«
Sein Gesicht war eine undurchdringliche Maske. Paul hatte Recht. Dillon war nicht mehr so wie früher. Dieser Mann war ihr fremd. Er sah aus wie Dillon, er bewegte sich wie Dillon, aber dort, wo früher ein bereitwilliges Lächeln und eine gewisse Sinnlichkeit gelauert hatten, trug er nun einen grausamen Zug um den Mund. Seine blauen Augen hatten immer vor Intensität geglüht, vor innerem Aufruhr, vor unbändiger Leidenschaft und purer Lebensfreude. Jetzt leuchteten sie in einem stechenden Eisblau.
»Siehst du ganz genau hin?« Er konnte seinen Worten gegen Ende eine Wendung geben, sie durch eine andere Betonung verdrehen, die nur ihm zu eigen war. Seine Worte waren bitter, doch seine Stimme war ruhig und distanziert. »Sieh dich ruhig satt, Jess, bring es hinter dich.«
»Ich betrachte dich, Dillon. Warum auch nicht? Ich habe dich seit sieben Jahren nicht mehr gesehen. Nicht seit dem Unfall.« Sie achtete bewusst darauf, dass ihre Stimme neutral klang, obwohl ein Teil von ihr um ihn weinen wollte. Nicht wegen der Narben auf seinem Körper, sondern wegen der weitaus schlimmeren Narben auf seiner Seele. Und er sah sie an, seine Blicke glitten wie Dolche über sie und nahmen jede Einzelheit zur Kenntnis. Jessica würde nicht zulassen, dass er sie aus der Fassung brachte. Es war zu wichtig für sie alle. Tara und Trevor hatten niemand anderen, der für sie kämpfte und sich für ihre Rechte einsetzte. Für ihren Schutz. Und es schien so, als hätte auch Dillon niemanden.
»Das glaubst du also, Jessica? Dass es ein Unfall war?« Ein humorloses kleines Lächeln ließ seine Lippen weicher werden, doch seine Augen glitzerten wie Eiskristalle. Dillon wandte sich von ihr ab und ging zu seinem Arbeitszimmer. Er trat zurück und bedeutete ihr, vor ihm einzutreten. »Du bist noch viel naiver, als ich dachte.«
Jessicas Körper streifte seinen, als sie an ihm vorbeiging, um sein privates Reich zu betreten. Sie nahm ihn so deutlich als Mann wahr, dass sämtliche Nervenenden schlagartig zum Leben erwachten. Elektrische Funken schienen zwischen ihnen überzuspringen. Er holte scharf Luft, und seine Augen wurden rauchgrau, bevor er sich von ihr abwandte.
Sie nahm sein Arbeitszimmer in Augenschein, um sich von ihm und seiner Männlichkeit abzulenken, und empfand es als angenehm. Es hatte mehr von dem Dillon, den sie in Erinnerung hatte. Viel weiches Leder, Gold- und Brauntöne, warme Farben. Kostbare Bücher standen, durch Glastüren geschützt, in deckenhohen Regalen. »Das Feuer war ein Unfall«, wagte sie erneut zu sagen, um sich behutsam vorzutasten.
Es schien, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Dieses Haus war anders und dennoch dasselbe, das sie in Erinnerung hatte. Dort gab es behagliche Orte, die von einem Moment auf den anderen verschwinden konnten. Dillon war ein Fremder, und in seinem funkelnden Blick lag etwas Bedrohliches, als er sie mit der Unerschrockenheit eines Raubtieres musterte. Voll Unbehagen nahm Jessica auf der anderen Seite des riesigen Mahagonischreibtisches Platz. Sie hatte das Gefühl,
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