Mondspiel: Novelle (German Edition)
nicht vollständig den Verstand verloren habe. Ich will nicht so enden wie Viv.«
Behutsam lehnte Jessica die Gitarre an die Wand. Sie wusste nicht, ob Vivians Geist im Haus weilte und ihr half oder ob der nächste Blitzstrahl ihrem Gehirn die Erleuchtung eingab. Wie Töne, die sich harmonisch miteinander verbanden, fügten sich die Teile des Puzzles plötzlich zu einem stimmigen Bild zusammen.
»Seit unserer Ankunft hier hätte jeder von uns einem der Unfälle zum Opfer fallen können. Ich habe versucht, ein logisches Muster zu erkennen, weil ich die fixe Idee hatte, jemand wollte Trevor und Tara schaden. Aber sie hätten jeden im Haus treffen können. Erkennst du die Logik dahinter, Brenda?«
Brenda schüttelte den Kopf. »Nein, aber du lässt mich bis in die Knochen frösteln.«
»Der Umhang. Die vermummte Gestalt. Der Hund hat nicht gebellt.«
»Ich kann dir nicht folgen. Gebellt?«
»Als Trevor unter dem Erdrutsch begraben war, hat Tara eine vermummte Gestalt gesehen, aber der Hund hat nicht gebellt. Es ist also kein Fremder, der sich auf der Insel versteckt, sondern jemand, den der Hund kennt.« Jessica wusste, dass sie dicht vor der Lösung stand. Sie musste nur noch das Muster in den dissonanten Klängen erkennen. »Warum haben nur wir drei uns übergeben? Warum Tara, Trevor und ich? Keinem von euch war übel.« Sie presste sich eine Hand auf den Mund, und ihre Augen wurden groß. »Die Schokolade. Mein Gott, er hat die Schokolade vergiftet. Er steckt hinter allem. Er hat Vivian erschossen, er muss es getan haben, und durch den Brand hat er seine Spuren verwischt.«
»Was soll das heißen, er hat die Schokolade vergiftet? Dillon? Du glaubst, Dillon versucht, die Zwillinge zu vergiften?« Brenda wirkte schockiert.
»Dillon doch nicht. Du glaubst doch nicht im Ernst, er hätte Vivian erschossen! Dillon hat nie etwas getan.« Jessica verlor die Geduld. »Du musst den Hubschrauber bestellen, damit er die Kinder abholt und sie ins Krankenhaus bringt. Sag ihnen, sie sollen die Polizei gleich mitbringen.« Sie musste sofort zu den Zwillingen.
Der nächste Blitz enthüllte die dunkel vermummte Gestalt, die stumm in der Ecke stand. Jessica sah ihn deutlich, und sie sah auch die Waffe in seiner Hand. Es wurde wieder dunkel, aber sie wusste, dass er da war. Real vorhanden. Ein unheimlicher Wahnsinniger mit Mordabsichten. Brenda schrie erschrocken auf, und Jessica stieß sie hinter sich. Sie tastete nach dem Aufnahmeschalter.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, während der Regen herunterprasselte, der Wind heulend am Haus riss und die Wasserspeier an den Dachtraufen stumm zusahen.
Jessica rang sich ein kleines Lächeln ab und zwang sich zu einer Ruhe, die sie nicht empfand. »Ich wusste, dass du es warst. Es wird ihm das Herz von neuem brechen.« Tiefes Bedauern schwang in ihrer Stimme mit. Das Wissen um einen solchen Verrat würde Dillon gewaltig verletzen. Ein Teil von Jessica hatte es von Anfang an geahnt, aber sie hatte es um Dillons willen nicht wahrhaben wollen.
»Du hast es nicht gewusst«, bestritt Paul. Sein Gesicht war so tief unter der Kapuze verborgen, dass sie es nicht sehen konnte. Er bot einen furchteinflößenden Anblick. Es fehlte nur noch die Sense, um das Bild des Todes zu vervollständigen.
»Natürlich, du musstest es sein. Niemand außer dir kann gewusst haben, dass jemand versucht hat, Dillon zu erpressen.«
»Deine Mutter«, zischte er, »war zu habgierig. Das Geld, das er ihr gegeben hat, damit sie für die Kinder sorgt, hat ihr nicht genügt. Ich habe die Schecks ausgestellt – sie hatte genug.«
»Nicht meine Mutter«, fauchte Jessica zurück. »Don hat Dillon erpresst. Dillon hat sie gebeten herzukommen, weil er mit ihr darüber sprechen wollte.«
»Ich verstehe überhaupt nichts mehr«, sagte Brenda. »Paul, was soll das? Warum stehst du in diesem lächerlichen Umhang da und richtest eine Waffe auf uns? Ich kann nur hoffen, dass du unter dem Ding nicht nackt bist! Ihr seid alle so melodramatisch! Wovon ist hier überhaupt
die Rede? Weshalb sollte jemand Dillon erpressen wollen?«
Jessica schenkte ihr keinerlei Beachtung. Sie wagte es nicht, Paul aus den Augen zu lassen. Er war psychisch labil, und sie hatte keine Ahnung, was bei ihm den Ausschlag geben könnte, aber sie wusste, dass er keine Probleme mit dem Töten hatte. Er hatte es schon mehrfach getan. »Nur du konntest es sein, Paul. Du hattest durch die Geheimgänge Zugang zu sämtlichen Zimmern. Du bist der
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