Mondsplitter
5 Uhr 51
Rachel Quinn hatte nicht geschlafen. Wie alle anderen auf der Station hatte sie vor dem Fernseher geklebt. Mit wachsendem Schuldgefühl erinnerte sie sich an den eigenen Zorn darüber, daß der Marsflug abgesagt worden war. Aber andererseits hatte sie auch keine Ahnung gehabt, daß der Komet etwas Derartiges auslösen würde.
Trotzdem zeichneten sich in den erbarmungslosen Meldungen von Flutwellen, Stürmen und Erdbeben auch ein paar ermutigende Geschichten ab; überall traten Helden auf. In Fort Lauderdale sammelte ein Mann mit einer Motoryacht mehrere Überlebende auf und überstand etliche Tsunamis. In Baltimore blieben Ärzte auf ihren Posten. Polizisten retteten mit Hubschraubern Menschen von den Dächern Houstons, und Teenager brachten in Savannah Kleinkinder in Sicherheit. Als eine Flutwelle an die Küste von Vancouver Island raste, rettete ein Mann etliche Nachbarn, indem er sie an Bord eines Wasserstoffballons stopfte. Sie entkamen nur Sekunden vor dem Untergang. In St. Augustine half eine junge Frau mehreren älteren Paaren, einen alten Steinturm zu ersteigen und sich dort in Sicherheit zu bringen.
Sogar Skyport hatte inzwischen Treffer eingesteckt. Trümmerstücke schlugen Kabinen auf zwei Decks leck, und drei Menschen waren tot.
Rachel saß gerade bei Mo über Toast und Kaffee und sah sich CNN an, als ihr Funktelefon läutete. Die Nummer des Anrufers verriet, daß er sich aus der Betriebszentrale meldete. »Quinn«, sagte sie.
»Oberst, ich bin Howard Chambers, Sonderassistent von Belle Cassidy.« Cassidy war die Betriebsleiterin. »Sie würde Sie gern in ihrem Büro sprechen.«
Zehn Minuten später wurde Rachel zu Cassidy hineingeführt. Die Direktorin stand in einer Ecke und beugte sich mit zwei Mitarbeitern über eine Konsole. Sie lächelte Rachel an, schickte die Mitarbeiter hinaus und lud Rachel ein, sich zu setzen. Belle Cassidy war Anfang Vierzig und strahlte etwas von einer Grundausbilderin beim Militär aus. Sie hielt sich stocksteif, hatte kurzes schwarzes Haar, Marmoraugen und breite Schultern. Rachel kannte sie bereits, hatte sogar an einem Essen mit ihr teilgenommen, als etliche Astronauten hier durchkamen und von der Skyportleitung eingeladen wurden.
»Schön, Sie wiederzusehen, Rachel«, sagte Belle und streckte die Hand aus. Eine Goldkette funkelte an ihrem Handgelenk, ein kurzes Aufblitzen von Weiblichkeit an einer sonst maskulinen Persönlichkeit.
Das Büro war groß, typisch für solche Räume auf Skyport.
An den Wänden hingen eingerahmte Dokumente, denen man alle Dienste entnehmen konnte, die die Inhaberin diversen Bundesdienststellen, ausländischen Regierungen und der Mondverkehrsbehörde geleistet hatte. Letztgenannte war ihre aktuelle Arbeitgeberin. Belle blieb stehen und verschränkte die Arme. »Rachel«, sagte sie, »wir brauchen Ihre Hilfe.«
»In welcher Hinsicht?«
»Wissen Sie schon, daß Präsident Kolladner tot ist?«
»Ja«, antwortete sie, »ich habe es vor kurzem erfahren.«
»Der neue Präsident ist da draußen gestrandet.« Belle deutete vage nach oben. »In etwa siebeneinhalb Stunden wird er hier vorbeifliegen, und das mit mehr als vierzigtausend Stundenkilometern. Sofern wir nicht jemanden losschicken, der genügend Saft draufhat, um ihn einzuholen, können sie genausogut den nächsten vereidigen, der an der Reihe wäre. Dieser idiotische Sprecher des Repräsentantenhauses wäre das, denke ich.«
Rachel machte große Augen. »Sie möchten die Lowell haben?«
»Sie ist alles, was wir haben. Die Stationsfähren schaffen es nicht.«
»Sicher«, sagte Rachel. »Ich hole mir die nötigen Zahlen von Ihren Leuten, und schon sind wir startbereit.«
»Ich danke Ihnen.«
»Ist mir ein Vergnügen.«
Beiles Miene verriet Bedauern.
»Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein: Wir haben die letzten paar Stunden damit zugebracht, eine Möglichkeit auszutüfteln, wie wir es mit unseren Fähren schaffen. Ich meine, wie oft erhält die MVB die Chance, einen Präsidenten zu retten?«
»Ist nicht möglich, wie?«
»Na ja … Falls nötig, könnten wir dem Mikrobus ein gutes Rennen liefern. Es ist jedoch einfach zu knapp, um das Risiko einzugehen.« Sie schüttelte Rachel die Hand. »Also erhält die NASA den ganzen Ruhm. Wieder mal.«
FRANK CRANDALLS DURCH-DIE-NACHT-ANRUF-SHOW, 5 Uhr 57
Für alle, die später eingeschaltet haben, und für alle, die unsere Zentrale mit Anrufen überschwemmen, möchte ich wiederholen: Frank ist okay. Er wurde in der
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