Mondtaenzerin
Haus war, und dann im Spiegel gesehen, wie düster meine Augen unter der orangefarbenen und pflaumenblauen Schwellung schimmerten.
»Bist du gefallen?«, fragte Giovanni mitfühlend.
Vivi zog an ihrer Schleife, und Peter wurde rot. Mein drohendes Anstarren verfehlte nicht seine Wirkung, keiner muckste sich.
»Ein Kratzer, nicht der Rede wert!«
Erst viel später erzählte ich Giovanni, wie es zu der Verletzung gekommen war. Werfe ich mein Haar nach hinten oder wirbelt es ein Windstoß empor, sieht man die Narbe noch heute: ein dünner Strich, heller als die gebräunte Haut.
Bisher waren wir drei gewesen; von diesen Augenblick an waren wir vier. Ganz rasch, fast heimlich, gehörte Giovanni zu uns. Vielleicht war die heftige Neigung, die Peter und Vivi – jeder auf seine Art – ihm entgegenbrachten, meinen eigenen Gefühlen nachgebildet. Oder auch nicht. Gesteigerte Gefühle allemal, die sich häuften, Schicht auf Schicht. Sie wurden bedeutend, einfach weil wir sie mit schuldhaftem Wohlbehagen erlebten. Es war nicht sofort zu erkennen, wer von uns die Fäden zog. Aber wenn ich zurückblicke, sehe ich immer nur Giovanni. Schweigsam und mit ungewöhnlicher Sanftmut wurde er unser Schatten. Aber schon damals war es, als ob wir dabei etwas Heimliches empfanden, und in unserer Freundschaft lag stets eine gewisse Angst. Denn niemand und nichts hatte unser Leben so geändert, wie Giovanni es änderte.
6. Kapitel
I n den Grabkammern war es immer Nacht. Das Gelände lag unterhalb einer Anzahl unbewohnter Häuser. Es hieß, die Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg hätten die Fundamente erschüttert, was sich später auch als wahr erwies. Die ganze Anlage ließ sich mit einer alten, vernachlässigten Baustelle vergleichen. Doch gab es Stufen und längst vergessene Leitern, die in das geheime Mark des Felsens führten. Unbefugten war der Zutritt natürlich verboten, aber welches Kind schert sich um Verbote? Jedenfalls kannten wir den Weg; ein Türschloss war nur mit einem Draht befestigt, der sich mühelos zurückbiegen ließ. Drinnen war es nicht völlig dunkel: Durch die mit Brettern vernagelten Fenster fiel spärliches Licht. Die Räume waren von Trümmerhaufen angefüllt, die durch den Treppenschacht gefallen waren. Zerschlagene Steine hatten den Fußboden bedeckt, Möbelstücke zermalmt und andere völlig verschüttet. Schmal und geschickt, wie wir waren, kamen wir überall durch. Wir kletterten über Steinbrocken, glitten an einem großen, im labilen Gleichgewicht herabhängenden Betonblock vorbei, wichen geschickt verrosteten Eisenstäben aus. Kinder denken nicht an Gefahren. Dass der Block ins Rutschen kommen konnte, kam uns überhaupt nicht in den Sinn. Die halb verschüttete Öffnung lag kaum sichtbar hinter einem Schuttberg, aber wir hatten die Stelle längst ausgemacht. Zwischen Rand und Gesteinsmassen war nur ein enger Durchschlupf geblieben. Peter, der Einzige, der eine Taschenlampe besaß, knipste diese jetzt an und leuchtete
hinab. Eine Leiter, an die raue Mauer gelehnt, führte in die Tiefe. Peter zwängte sich mit den Füßen voran in das Loch, kletterte vorsichtig die Sprossen hinab. Wir folgten dem hüpfenden Lichtkegel. Von Sprosse zu Sprosse tastend, bahnten wir uns allmählich den Weg nach unten. Die Leiter stammte noch aus Kriegszeiten. Man hatte sie benutzt, um Trinkwasser aus der Zisterne zu schöpfen. Diese befand sich in einer unterirdischen Kammer und war aus dem natürlichen Kalkstein geschnitten worden, wobei Pfeiler die Wände stützten. Wir beugten uns über den Rand, an dem noch ein Eimer an einer Kette befestigt war. Ein muffiger Geruch stieg aus dem alten Brunnen empor. In mehreren Metern Tiefe schimmerte Wasser, von irgendeiner unterirdischen Quelle gespeist. Das Wasser, vollkommen still, starrte wie ein pechschwarzes Riesenauge zu uns empor. Als Peter sich mit der Lampe vorbeugte, wurde es plötzlich so durchsichtig wie Glas. Funken spielten in der feuchten Tiefe, und unsere Gesichter bewegten sich wie rosa Flor auf der glänzenden Fläche.
»Tief?«, fragte Giovanni.
»Nur, wenn es regnet.«
Peter hob einen kleinen Stein auf und warf ihn in die Zisterne. Es gab ein plätscherndes Geräusch. Silberne Wellenringe zeigten, dass das Wasser lebte.
»Jetzt ist es ziemlich tief«, meinte Peter.
Eine zweite, ebenso morsche Leiter führte in den eigentlichen Eingangsbereich der Grabkammern. Hier zweigten Gänge ab, die alle in verschiedene Räume mündeten. Der Eingang jeder Kammer war
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