Mondtaenzerin
gefasst. Irgendwas musste es geben auf der Welt, das sie bisweilen auf ganz verrückte Ideen brachte. Womöglich war sie jetzt auch Giovanni unheimlich, denn er sah sie drei volle Sekunden an, ehe er sich bewusst und langsam wieder dem Skelett zuwandte. Seine Augen folgten dem Lichtkegel, und plötzlich stieß er mich mit dem Ellbogen an und deutete auf einen kleinen Gegenstand, der dicht bei der Frau zwischen den Resten von Brustkorb und Arm sichtbar war. Die Frau, die auf der rechten Seite lag, schien diesen Gegenstand einst mit dem linken Arm wie eine Puppe umfasst zu haben. Ein Knochen war es nicht. Giovanni beugte sich vor, langte behutsam nach dem Ding, das sich ganz leicht aus dem
Geröll löste. Ich richtete den Schein der Taschenlampe auf den Fund, den Giovanni behutsam hielt und betrachtete. Es war eine Tonfigur, kaum größer als seine Handfläche. Sie stellte nicht, wie ich zunächst angenommen hatte, einen Vogel dar, sondern eine schlafende Frau. Sie lag auf einem Ruhebett, auf ihren rechten Arm gestützt, in der gleichen Stellung wie die Tote. Der Kopf war im Verhältnis zum Körper klein, die Brust entblößt, und die Hüfte bildete eine hohe Wölbung. Schulterblätter, Rücken und Gesäß waren wunderbar naturgetreu geformt und zeigten eine harmonische Linie. Die Schlafende trug eine Art Faltenrock, von der Taille abwärts bis zu den Waden, die kleinen Füße waren leicht eingezogen und jeder Zeh akkurat nachgebildet.
Dass Vivi nicht mehr neben uns kauerte, war uns nicht aufgefallen, weil die Figur unsere ganze Aufmerksamkeit gefangen nahm. Wir merkten es erst, als wir hörten, wie Peter einen erschrockenen Laut ausstieß. Irgendwann war es Vivi gelungen, die Nische zu verlassen und so leicht über die Wand nach unten zu gleiten, als wöge sie nur so viel, wie man im Traum wiegt. Und jetzt lag sie zu Peters Füßen am Boden, verdrehte die Augen, von denen man nur noch das Weiße sah. Sie wälzte sich hin und her, von Krämpfen geschüttelt, während Peter neben ihr kniete und hektisch in den Taschen seiner Jeans wühlte. Er fand das Taschentuch, das er suchte, und stopfte es Vivi in den Mund. Ich sah Giovanni bedeutungsvoll an.
»Sonst beißt sie sich die Zunge ab!«
Giovanni, der einen verwirrten Eindruck machte, nickte nur. Wir stiegen hinab, setzten einen Fuß nach dem anderen auf die vorspringenden Steine. Bei dem bisschen Licht war der Abstieg gefährlich. Wie hatte Vivi das nur so schnell geschafft? Ich kletterte voraus, und Giovanni folgte, wobei er die kleine Figur behutsam an sich drückte. Seine Füße in den zerschlissenen Turnschuhen fühlten sehr geschickt den Fels. Und
kaum standen wir unten, da hob Vivi den Kopf, hustend und würgend, und spuckte das Taschentuch angeekelt aus.
»Was soll denn das?«, keuchte sie erbost. »Warum steckst du mir das dreckige Ding in den Mund?«
Peter antwortete pflichtschuldig, sein Vater habe gesagt …
»Ach, geh weg mit deinem Vater!«
Worauf Peter leicht pikiert erwiderte, dass er ja nur helfen wollte.
»Mein Vater ist Arzt, und …«
Vivi fuhr mit einem wilden Ruck hoch und kniff ihn so fest in den Arm, dass er schmerzhaft das Gesicht verzog.
»Au!«
»Schnauze! Ich will hören, was die Frau sagt.«
»Hier ist keine Frau«, stammelte Peter.
»Doch, da oben…« Vivi deutete auf die Nische, in der das Skelett lag.
»Vivi, das ist nicht lustig …«
»Schnauze! Sonst verstehe ich kein Wort!«
Peter rieb sich verdrossen den Arm und schwieg. Vivi fiel wieder flach auf den Boden, der dünne Körper klatschte auf die Steine, sie sah mit leerem Gesichtsausdruck an ihm vorbei, während ihre Augen sich, leicht hin und her schwankend, ins Vage richteten. Peter und ich tauschten einen Blick. Vivi sollte uns nicht für dumm verkaufen. Sie war eine, die gerne Theater spielte. Aber nicht immer. Und jetzt wussten wir nicht, was wir von der ganzen Sache halten sollten, und hörten betroffen zu, was sie, ohne sich sonderlich anzustrengen, erzählte. Es war genau so, als sähe sie im Fernsehen eine mächtig spannende Sendung, dreidimensional, die sie uns in allen Einzelheiten beschrieb, weil wir einfach zu blöd waren, das Gleiche zu sehen.
»… große Steine stehen im Kreis, mit Balken darüber. Der innere Kreis ist schon länger da; den haben Riesen gebaut. Die Luft ist dunkelblau, der alte Mond scheint. Der Mond war ja
früher viel größer als heute. Viele Leute kommen, tragen Blumen, Körbe, kleine Ziegen oder Lämmer. Sie knien auf dem Boden,
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