Mondtaenzerin
ich meine. Und, ehrlich gesagt, Grandpa stand mir auch näher als Alexis, der heroinsüchtig war und immer nur das Gleiche erzählte: ›Das Individuum muss frei sein, Drogen brechen Widerstände und führen uns
zur Einheit. Drogen helfen uns, aus unseren Leben ein Kunstwerk zu machen‹, sagte er, knetete Pizzas und bestreute sie mit Sardellen.«
»Was sagte dein Großvater dazu, dass du Rocksängerin werden wolltest?«
Auch bei ihr zeigte der Gin seine Wirkung. Sie lachte stoßweise und ein wenig überdreht.
»Am Anfang, da verstand er mich nicht. Ich machte ihm klar, wie ich mein Leben führen wollte. Am Ende akzeptierte er das. Irgendwie hatte er sogar Spaß an der Sache. Er hatte mir von den Tagungen im Parlament erzählt, von selbstgerechten Hardlinern und salbungsvollen Imagepflegern, die zuschlugen wie der Blitz, wenn man sie nicht im Auge behielt, von Intrigen, Scheinmanövern und Interessengruppierungen. ›Eine Hackordnung wie im Hühnerhof!‹, sagte Grandpa. Er sprach darüber mit umso größerem Sarkasmus, je kränker er wurde. Er war schon über alles hinaus. Ein- oder zweimal sagte er zu mir, was für ein langweiliger, arroganter, heuchlerischer Typ er doch geworden sei! Die meisten Politiker würden so, früher oder später, überfressen und in Eigennutz glasiert, wie in Sülze. Politik sei eine Waffe, sagte er. Und wer sie einmal in der Hand hätte, gäbe sie nie wieder ab, es sei denn gewaltsam. Er sagte auch: ›Kümmere dich nicht um Politik, Viviane, kümmere dich um dein Leben.‹
Ich sah in ihre großen, dunkel geschminkten Augen. Nach wie vor sprach sie leichthin und kühl, aber tiefer Ernst war es, was am stärksten in diesen Augen leuchtete.
»Glaubst du wirklich«, fragte ich, »dass du dein Leben verwirklichen kannst?«
Ihre Antwort klang, wie immer, sachlich und wohlüberlegt.
»Das Leben ist kurz. In meiner Familie sind schon so viele Menschen gestorben. Oft komme ich mir wie eine Überlebende vor. Rockmusik betäubt, Alessa, löst alles auf. Ich liebe Punk, Slash-Metal, Hardcore und dergleichen. Ich brauche die
Kakophonie; je lauter wir spielen, desto glücklicher werde ich. Lärm kann sehr kreativ sein, hast du das gewusst? Manchmal stehe ich am Rand von Baustellen, wo Maschinen die Erde aufreißen, und empfinde ein seltsames Gefühl im Bauch. So angenehm, dass ich aufpassen muss. Einmal bin ich fast in ein Loch gestolpert. Aber Rock ist besser. Rock hilft mir, den Kopf freizubehalten.«
In der Tat war sie näher an der Wirklichkeit als ich, die keinen Fernseher hatte, kaum ins Kino ging und keine Romane las. Ich suchte nach der eigenen Bestimmung, die fern war wie der Mond. In mir staute sich alles an, ich konnte nicht »Tabula rasa« machen.
»Findest du Ruhe im Lärm?«
Sie zeigte ihre Perlenzähne. Ihr Lächeln war eine Spur zu kokett. Schon früher fiel es ihr leicht, sich durch Charisma beliebt zu machen.
»Ach, vielleicht ist es nur Selbstdarstellung. Aber ich kenne meine Grenzen. Ich weiß, wo und wann ich was tun kann und was nicht. Meine Shows produziere ich selbst, sie müssen perfekt bis ins kleinste Detail sein. Ich brauche einen festen Rahmen, dann kann ich loslegen. Meine Gitarre habe ich auch von Grandpa, sie ist schon achtzig Jahre alt und wiegt eine Tonne! Nach der Show bin ich kaputt, aber der Sound ist einfach großartig!« Viviane drehte ihre dünnen Arme mit den schlanken Gelenken. Sie hatte lange, feine Muskeln, die geschmeidig und stark waren.
»Aber du spielst doch auch Cembalo, hast du gesagt.«
»Siehst du da einen Widerspruch? Ich nicht!«
Sie verließ schwungvoll das Sofa, klappte das Cembalo auf. Ich setzte mich neben sie auf die Bank. Viviane redete und spielte gleichzeitig, mit größter Gelassenheit. Die Töne folgten und mischten sich, bildeten eine Melodie, die mir vertraut war. Ich summte sie unwillkürlich mit. Viviane nickte mir zu.
»Brahms«, sagte sie.
»Und so etwas Schweres kannst du spielen?«
»Es ist leichter, als du glaubst. Man muss nur der Melodie folgen, die man im Kopf hat. Deswegen habe ich alle Stücke auswendig gelernt. Habe ich Noten vor mir, kann ich mich nicht konzentrieren.«
Die Melodie klang so schlicht, so herzzerreißend. Musik löst seltsame Empfindungen aus. Erklingt Musik und kommt sie mit der richtigen Stimmung in uns zusammen, werden wir wie durch Traumkraft mitten in die Herzkammer getroffen. Ein schmerzliches Rieseln zog durch meine Brust.
Ich sagte leise: »Giovanni hätte diese Musik
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