Mondtaenzerin
Fäusten, doch er hob nicht den Kopf und rührte sich auch nicht.
»Nun lass ihn doch in Ruhe!«, schrie ich.
Vivis Lachen verebbte wie eine kleine Woge, die sich zurückzieht. Sie richtete sich auf, schnappte nach Luft. Sie sah atemlos und etwas beschämt aus. Und nach einer Weile kam Peter mit finsterem Gesicht zurück. Da setzte sich auch Giovanni wieder hoch und strich sich das sandverklebte Haar aus dem Gesicht. Danach spürten wir, dass es kühler wurde. Die Luft war feucht und klar, die noch fahle Frühlingssonne stand bereits tief. Himmel und Meer schimmerten rosa, wie das Innere einer Muschel. Auch die Touristen rollten ihre Tücher ein und entfernten sich. Schweigend zogen wir uns wieder an, und auch auf dem Heimweg sprachen wir kaum noch miteinander.
10. Kapitel
J ahre später, als Peter und ich zu Besuch bei meinen Großeltern auf Rügen waren, griffen wir das Thema zum ersten Mal wieder auf. Für uns war es stets eine beunruhigende Geschichte gewesen, nicht so sehr wegen der äußeren Umstände, sondern mehr im Hinblick auf die Art, wie wir sie empfunden hatten. Wir konnten uns auf zweierlei Weise erinnern: unbefangen die eine, mit einem merkwürdig schlechten Gewissen verbunden die andere, weil sie Gefühle an die Oberfläche brachte, die verschwiegen, wirr und intim-persönlich waren. Dabei waren unsere Erinnerungen oft nicht dieselben, hatte doch jeder von uns eine Sicht der Dinge, die vom jeweils eigenen Empfinden geprägt war. Das Schwierigste war, dazwischen ein Gleichgewicht zu finden.
Es war das erste Mal gewesen, dass ich Peter zu den Großeltern nach Binz einlud. Peter gefiel ihnen sehr. Er sei ein besonderer junger Mann, hatte Großmutter gesagt, was auch immer sie darunter verstand. Peter schien überhaupt nicht befangen, im Gegenteil: Er schien genau zu wissen, wie er mit den Großeltern zu reden hatte. Es war, als ob er sich bei ihnen zu Hause wüsste. Er fühlte sich offenbar wohl. In Binz hätte es gewiss Leute gegeben, die misstrauisch gewesen wären – wer hätte es ihnen verdenken können? Aber nein, die Großeltern waren bezaubert.
Es regnete viel in diesem Sommer, die Ostsee war grau, zum Baden viel zu kalt. Die Großeltern hatten uns ihre Fahrräder
ausgeliehen. Wir machten lange Radtouren. Auf Rügen hätte man glauben können, die Wälder seien endlos und ewig wie das Meer. Der Himmel hatte, auch wenn er blau war, eine schiefergraue – eine nördliche – Färbung. Oft kam auch ich mir vor, als trüge ich entgegengesetzte Gefühle wie Farben in mir: glutvoll und warm wie das Mittelmeer, und dann wieder kühl und wie erstarrt, nördliche Gefühle eben: Ingrids mütterliches Erbe. Diese lebhaften Kontraste, die mein Wesen bildeten, dieser Zwiespalt zwischen Gefühl und Vernunft, wurde mir erst auf Rügen klar. Die Küsten von Malta waren gelber Sandstein, der das Sonnenlicht aufsog. Am Abend lag ein pulsierendes Rot über der Landschaft, das man mit geschlossenen Augen sah. Die Kreidefelsen von Rügen, waldgekrönt, ließen große Steine ins Wasser herabstürzen. Am Ufer schlugen Bäume ihre Wurzeln in die Felsspalten, widerstanden, mit Eisfäden bedeckt, den Winterstürmen. Moose und Farne sprachen von einer uralten Welt, und es gab auch Ruinen, die vielleicht Tempel waren, vielleicht Gräber, die aus dunklen Vorzeiten stammten und unter Eichen von Zeiten erzählten, da die Menschen zu den Geistern beteten, zu den geheimen Kräften des Weltalls und des Feuers. Kreisförmig auch hier verlassene Gehäuse, die vielleicht nur Eingänge waren zu unerforschten Grabkammern. Unter diesen Eichen sprachen wir von Vivi, und kein Geist, so schien es uns, hörte zu. Die vertrauten Zaubermächte waren fern, anders als damals. Wir waren keine Kinder mehr; sprachen die Geister zu uns, hörten wir sie kaum noch. Und an einem dieser Tage war es, dass wir seit langer Zeit zum ersten Mal von Vivi sprachen, die jetzt in Amerika war.
»Weißt du«, sagte Peter, »Vivi war einfach unglaublich dreist.«
»Was willst du machen?«, erwiderte ich. »Ihre Familie war …« – ich suchte das richtige Wort – »na ja, exzentrisch.« Wir sprachen über die Unstetigkeit, mit der sie die Liebhaber wechselte, wie sie von einem Ort zum anderen floh, von einer
Musikart in die nächste. In Vivi schien nichts beständig. Sie war eine Art Fee, ein Irrlicht, schillernd und unberechenbar. Eine junge Frau mit schmalen Schenkeln, fast ohne Busen, mit großen Augen unter rot gefärbten Fransen. Ihr schmaler
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