Mondtaenzerin
unbewusste Mauer, um uns vor dem zu schützen, was Schmerz bereiten könnte. Aber damals, auf Rügen, bauten Peter und ich die trennende Mauer Stück für Stück ab, und die Erinnerungen kamen zurück wie Träume. Vivis imaginäre Welt war tatsächlich sonderbar, obwohl wir es damals nicht so empfanden. Wir wunderten uns nur, dass sie stets ohne die geringste Furcht als Erste über die Leiter in die Grabkammern stieg. Nur Peter hatte eine Taschenlampe, aber Vivi glitt immer voraus, so geschwind und leicht, als ob ihre Pupillen in der Dunkelheit sähen. Ich hatte immer Angst, eine Sprosse zu verfehlen, Vivi überhaupt nicht. Waren wir ihr zu langsam, stand sie still wie eine kleine Holzfigur und wartete auf uns. Rund um uns dehnten sich die Gewölbe des Tempels, die langen Gänge, die Kammern mit ihren Löchern und Nischen. Gelegentlich trippelte eine Maus davon, oder eine Ratte duckte sich in der Finsternis. Ratten waren uns unheimlich, aber sie schienen ebenso viel Angst zu haben wie wir vor ihnen. Einmal kroch eine Blindschleiche durch den feuchten Gang, ein andermal saß eine Katze hoch oben auf einem Mauersims. Ihre grünen Augen fingen das Licht auf, doch sie rührte sich nicht von der Stelle, auch nicht, als wir sie mir Koseworten zu uns lockten. Nach einer Weile erhob sie sich ohne Hast; ihr langer Schatten glitt über die Steine, und fort war sie. Wir sprachen nie laut
in den Grabkammern; es ziemte sich nicht, und wir spürten das. Wer niesen oder husten musste, hielt sich die Hand vor den Mund.
Eine Zeit lang verspürte ich großes Unbehagen, weil ich etwas gestehen musste und mich davor fürchtete. Endlich entschloss ich mich dazu, mein Gewissen zu entlasten. Ich erzählte, dass ich die heilige Puppe nicht gut genug weggelegt hatte, dass Mutter sie gefunden hatte. Und dass Vater, nach allerhand Fragen, die Puppe an sich genommen hatte, um sie der Museumskommission zu zeigen. Vivi machte ein wütendes Gesicht, aber Giovanni schien erfreut.
»Wird sie jetzt ausgestellt?«
Ich antwortete kleinlaut: »Scheinbar sind sie im Augenblick dabei festzustellen, ob die heilige Puppe echt ist oder nicht. Das braucht Zeit, sagt mein Vater.«
Vivi fauchte mich an.
»Warum hast du sie nicht besser versteckt?«
Ich zog betreten die Schultern hoch.
»Sie war in einer Schublade.«
»Hat dein Vater wissen wollen, woher du die Figur hast? Los, was hast du gesagt?«
Es klang, als ob sie mich verhörte. Dabei dämpfte sie ihre Stimme zu einem wütenden Zischen, was mich noch mehr verunsicherte.
»Nun stell dich doch nicht so an! Ich … ich habe gesagt, dass ich es bin, die die Puppe gefunden hat. In einem Loch«, setzte ich kläglich hinzu.
Vivi sah plötzlich aus wie eine Furie.
»Scheiße! Hast du das wirklich gesagt?«
»Ja, ich wollte doch nicht, dass …«
Vivi zerrte hektisch an ihrer Schleife, riss sie los, warf sie auf den Boden. Sie fuhr mit beiden Händen durch ihr rotes Haar und blickte irgendwohin, nur nicht zu mir.
»Du hast gelogen, du Holzkopf!«
»Ja, aber …«
Sie flüsterte wie toll: »Du darfst nicht lügen, hörst du? Persea weiß alles! Oh, du wirst jetzt großen Ärger haben!«
»Ich wollte keine Scherereien. Ich …«
»Du gemeine, dreckige Lügnerin!« Vivi stampfte mit dem Fuß auf. »Die Puppe war nicht für dich! Die Puppe war für Giovanni.«
»Ich finde es richtig, dass sie das gesagt hat«, mischte sich Giovanni ein. »Sonst glauben die Leute, dass ich sie geklaut hätte.«
Er hätte das nicht sagen sollen, denn jetzt fiel Vivi über ihn her. Sie hatte einen richtigen Zornesausbruch.
»Du hast sie nicht geklaut, merke dir das! Die Puppe war ein Geschenk von Persea!«
Giovanni schüttelte den Kopf, versuchte etwas zu sagen und brachte es nicht fertig, weil Vivi ihn zu sehr einschüchterte. Sie sah ihn voll an, ließ ihre etwas schräg gestellten Augen funkeln. Vielleicht las er etwas in diesen Augen, ein Moment ohne Bewegung, der ihn sprachlos machte. Peter, der das nicht sah, brach mit einem nervösen Lachen das Schweigen.
»Ach, geh weg mit deiner Persea. Die hast du ja nur…«
Weiter kam er nicht. Vivi wirbelte um sich selbst herum. Sie knirschte mit den Zähnen und spuckte ihm ins Gesicht, bevor sie ihm mit aller Kraft einen Fußtritt verpasste.
»Sag das noch mal, und ich schlage dir die Zähne ein!«
»Au!«, stöhnte Peter, wischte sich die Spucke von den Brillengläsern und rieb sich das schmerzende Schienbein. Vivi war immer noch nicht beruhigt und zog hörbar
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