Mondtaenzerin
zusammenkniff, hatte ich vor lauter Qual Halsschmerzen. Irgendwie war es doch so, wie mein Vater gesagt hatte. Ich konnte mich nicht einmal über seine Worte entrüsten. Giovanni und ich waren durch Welten voneinander getrennt. Und gleichzeitig gehörten wir zusammen, eine Sache, die Vater nie begreifen würde. Ich spürte, wie ich zunehmend sachlich und störrisch wurde. Ob Giovanni aus schlechter Familie war, spielte überhaupt keine Rolle. Was mein Vater gesagt hatte, war viel weniger wichtig als das, was Giovanni für mich war. Ich hatte für ihn gekämpft und gelitten. Er gehörte mir, und ich gehörte ihm, wir konnten einander alles sagen.
Und jetzt war er unglücklich, was ich nicht ertragen konnte. Niemand – außer mir selbst – durfte Giovanni verletzen.
Ich fragte: »Wurde dein Vater nicht verurteilt?«
Er sah mit leeren Augen zu mir auf. Ich war ganz im Bann seiner Verzweiflung.
»Sie haben ihn freigesprochen. Aus Mangel an Beweisen. Meine Geschwister haben ausgesagt, Mutter sei mit einem Topf Suppe in der Hand über einen Stuhl gestolpert. Sogar der Mimmo, der viel zu dumm ist, um zu lügen. Alle hatten Angst.«
»Hast du es deinem Onkel erzählt?«
Giovanni nickte mit zugekniffenen Augen.
»Doch, alles. Er hatte längst gemerkt, wie mich das quälte, und nahm sich viel Zeit für mich. Ich hatte meine Mutter sehr lieb gehabt, das wusste er ja, und fand tröstende Worte. Als ich ihm offen sagte, was ich dachte, fragte er mich, ob ich wirklich meinte, dass alle Zeugen vor Gottes Angesicht gelogen hätten. Wussten sie denn nicht, dass Gott in die Herzen der Menschen sah und erkannte, was sie vor sich selbst und den anderen verbergen? Ja, mein Vater sei ein harter Mann, das könne er nicht leugnen. Aber fähig, sich an der Mutter seiner Kinder auf solch entsetzliche Art zu vergreifen? Mehr konnte Don Antonino nicht dazu sagen. Er hatte Vaters Beichte abgenommen, und die stand unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Aber weil ich so viel Kummer hätte, sollte ich wissen, dass mein Vater seine gute Gefährtin beweinte. Und dass er seinen Schmerz in der prachtvollen Zeremonie für die Verstorbene gezeigt hatte, die Kirche ganz mit Blumen geschmückt, und in seiner großzügigen Spende für die Armen. Daraufhin fragte ich Don Antonino, ob er denn glaubte, dass mein Bruder gelogen hätte. Er antwortete, auch dieses sei womöglich etwas ganz anderes als das, was ich dachte. Filippo hatte ja auch seine Mutter verloren und reagierte empfindlich. Und soweit er es beurteilen konnte, sei Filippo kein böser Mensch, nur einer,
der zu viel grübelte. Ich sollte mich nicht zu sehr auf ihn verlassen. Was ich tun konnte? Nun, für ihn beten, dass Gott ihm den inneren Frieden zurückgab.«
Ich machte ein skeptisches Gesicht. Was Don Antonino gesagt hatte, wirkte schrecklich belehrend. Aber alles, was ich dazu zu sagen wusste, war: »Es könnte ja sein, dass es stimmt…«
Giovanni stieß zischend die Luft aus. Er ballte die Fäuste, seine Augen waren ganz schmal und dunkel geworden.
»Nein, es ist alles ganz falsch! Mein Vater hat ihn angelogen. Er glaubt nicht richtig an Gott, musst du wissen. Er tut nur so, weil er keine Scherereien will. Und mit der Armenspende hat er sich die Absolution erkauft. Oh, wenn ich könnte, würde ich ihn erschießen!«
Giovanni zitterte vor unterdrückter Wut. Er und ich hatten immer jeden noch so kleinen Gedanken geteilt, niemals ein Geheimnis voreinander gehabt – nie. Aber jetzt mochte er das Gefühl haben, dass ich ihn nicht verstand. Ich sagte mit matter Stimme: »Aber Don Antonino hätte das doch merken müssen!«
Giovanni schüttelte den Kopf. Seine Augen waren von Tränen rot gerändert.
»Nein. Er ist Priester und muss den Menschen, denen er die Beichte abnimmt, vertrauen. Sonst bricht ja alles zusammen.«
Ich wusste nicht, worauf er anspielte.
»Was? Was bricht zusammen?«
Er machte eine heftige Geste.
»Die Kirche, die Religion, alles. Wohin soll das führen, wenn man Priester ist und es mit Leuten zu tun hat, für die ›Ego te absolvo‹ nur ›Schwamm drüber‹ bedeutet? Wenn sie keine Angst mehr vor dem Höllenfeuer haben …«
Giovanni war stets ein Junge gewesen, der sich viele Gedanken machte. Jetzt aber hörten sich seine Worte seltsam an, ja, sie widersprachen geradezu seiner Erziehung als zukünftigem
Seminaristen. Und später kam mir in den Sinn, dass er schon damals begonnen hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren, und nebelhaft ahnte, dass er
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