Moni träumt vom großen Glück
ohne den Gedanken, daß er etwas von seinem sauer verdienten Geld in einem Blumengeschäft angelegt hatte.
Ich mußte immer staunen. Als es zu Tisch ging, schob Marc Muttis Stuhl zurecht und setzte sich erst, als Mutti saß. Und keine weißen, gepflegten, adeligen Hände hätten Messer, Gabel und Serviette korrekter handhaben können als Marcs Arbeitsfäuste es taten.
Mutti fragte, wie es seinem Großvater ginge.
„Danke, leider nicht sehr gut“, sagte Marc. „Kennen Sie meinen Großvater, gnädige Frau?“
„Eigentlich nicht“, sagte Mutti. „Aber als ich vor ein paar Monaten vertretungsweise Schalterdienst in der Telegramm-Annahme machte, weiß ich, daß ihr Großvater eines Tages kam und ein Telegramm abschickte. Ich kann mich daran erinnern, weil ich ihm mit ein paar Kürzungen behilflich sein mußte, und weil es ihm anscheinend neu und unbekannt war, ein Telegramm zu senden.“
Marc lächelte. „Ja, das kann man wohl sagen. Opa hat bestimmt nicht viele Telegramme in seinem Leben abgeschickt. Ich wette, daß es ein Telegramm war, das mich anging. Vielleicht war es sogar das Telegramm an mich, ob ich zu ihm kommen könnte.“
„Ja“, sagte Mutti, „genau das war es.“
„Ach, Mutti“, sagte ich, „und das hast du mir gar nicht erzählt!“
„Natürlich habe ich das nicht erzählt“, sagte Mutti. „Weißt du nicht, daß eine Postbeamtin Schweigepflicht hat?“
„Ach, du liebe Zeit, was du alles mit dir herumträgst an Wissen, von dem ich gar nichts ahne.“
„Allerdings“, sagte Mutti, „das tue ich, genau wie ein Arzt. Du weißt doch, Moni, daß wir Schweigepflicht haben.“
„Ja, eigentlich weiß ich das, ich frage ja auch nicht.“
„Nein“, sagte Mutti. „Das wäre noch schöner und würde auch nichts nützen, du würdest doch keine Antwort bekommen.“
Dann wandte sie sich wieder an Marc: „Wissen Sie, ich freue mich richtig für Ihren Großvater, daß Sie kommen konnten. Offen gestanden, damals, als er das Telegramm abgegeben hatte, da erzählte er mir in seiner Aufregung – ja, er war aufgeregt – , daß es sich um seinen einzigen Enkel handelte, einen Enkel, von dessen Existenz er bis dahin nichts geahnt hatte.“
„Was?“ rief ich. „Wußte er nicht, daß du auf der Welt bist, Marc?“
„Nein, er wußte es nicht. Ich wußte auch nicht, daß ich einen Großvater hatte. Ach, das ist eine lange und langweilige Geschichte. Sprechen wir von was anderem.“
„Gar nicht“, sagte ich. „Das klingt ja wie ein Roman.“
„Nein, das ist kein Roman“, sagte Marc. „Das ist eben die merkwürdige und traurige Wirklichkeit, so wie sie manchmal vorkommt nach einem Krieg, und wenn man das Unglück hat, die Eltern so früh zu verlieren wie ich. Weißt du, nach einem Krieg kommt alles ein bißchen durcheinander. Und wenn man nicht das Rote Kreuz gehabt hätte und den Suchdienst im Rundfunk und solche Sachen, na, dann hätte ich vielleicht bis jetzt nicht gewußt, daß ich einen Opa habe. Und übrigens“, fügte Marc hinzu, und jetzt sprach er ganz leise, „übrigens fürchte ich, ich werde ihn auch nicht allzu lange haben. Mein Großvater weiß selbst nicht, wie krank er ist, und ich bin sehr froh, daß ich noch rechtzeitig zu ihm kam.“
Es trat eine kleine Pause ein. Dann sagte Mutti: „Und Sie haben Ihre ganze Arbeit abgebrochen, um zu Ihrem Großvater zu kommen?“
„Meine Arbeit mußte ich sowieso abbrechen“, sagte Marc. „Ehrlich gesagt, war mir das sehr willkommen. Nicht nur, daß ich zu meinem Großvater kam, sondern daß ich überhaupt irgendwo hinkam. Ich hatte ein paar Semester Volkswirtschaft studiert und wollte gern das Staatsexamen machen, und dann wurde ich krank. Da ging das Geld aus, naja, das eine kam zum anderen, und Opas Telegramm erschien genau im richtigen Augenblick.“
„Das muß aber ein großer Übergang gewesen sein, Marc“, sagte ich, „sich von Volkswirtschaft auf Eisenbahnsaubermachen umzustellen?“
Marc lächelte. „Ach, in diesem Punkt bin ich ziemlich elastisch. Ich habe so viele seltsame Jobs gehabt in meinem Leben. Auf ein paar dreckige Eisenbahnwagen mehr oder weniger kommt es bei mir nicht an. Außerdem ist es eine sehr praktische Arbeit für mich; denn die kann ich machen, während Opa schläft. Tagsüber ist er immer froh, wenn er mich bei sich hat, und ich bin ebenso froh, daß ich bei ihm sein kann. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, einen Menschennicht mit Namen anzureden, sondern mit – ja, wieheißt es? – mit
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