Moni träumt vom großen Glück
erst die undeutliche Schrift entziffern mußte. Ich war ungeduldig, ich wollte so schnell wie möglich lesen. Als ich eine Seite durchgeschwitzt hatte, nickte Marc.
„Ich glaube, du schaffst es, Moni. Es ist doch ein Segen, daß dein Opa gotisch schreibt, so daß du es auch hast lernen müssen. Willst du es auf dich nehmen, dieses Manuskript mit der Maschine zu schreiben? Es beträgt wahrscheinlich zweihundert Seiten.“
„Mensch“, stöhnte ich. „Zweihundert Seiten so wie dies geschrieben?“
„So wie dies, aber du wirst ganz gut verdienen dabei.“
Das klang wie Musik in meinen Ohren. „Klar, mache ich. Mutti, was sagst du dazu?“
„Das weißt du doch, Moni. Soweit es sich nicht ungünstig auf deine Schularbeiten und deinen Nachtschlaf auswirkt, sage ich ja, und ich stelle dir herzlich gern meine Maschine zur Verfügung.“
„Ach Mutti, du bist ein prima Mädchen!“ Marc lächelte ein bißchen. Er sagte nichts, aber ich las seine Gedanken: Wie schön müßte es sein, eine Mutter zu haben, mit der man so richtig kameradschaftlich umgehen konnte, eine Mutter, die man „ein prima Mädchen“ nennen konnte. „Aber nun erzähl doch, Marc: Was ist das für eine Dame?“ Dann erzählte Marc. Die schreibende Dame war achtzig Jahre alt, Offizierswitwe und saß in Berlin. In ihrer Jugend war sie Schauspielerin gewesen. Nun lebte sie allein in ihrer kleinen Wohnung, umgeben von lauter Erinnerungen, Lorbeerkränzen, Schauspielerfotos und den Auszeichnungen ihres Mannes. Vor etwa zwei Jahren hatte sie angefangen, ihre Memoiren zu schreiben. Sie hatte ein paar Versuche gemacht, jemanden zu finden, der das Ganze abschreiben könnte, aber in der Schreibstube, wo sie gefragt hatte, hatte man es glatt abgelehnt. Es sei zu undeutlich, und die jungen Angestellten verstünden überhaupt nicht die deutschen Buchstaben zu lesen. Ein Angebot hätte sie gehabt, aber das wäre so märchenhaft teuer gewesen, daß sie es nicht annehmen konnte.
„Aber warum in aller Welt schreibt die Dame denn nicht gewöhnliche lateinische Buchstaben?“
Marc lächelte. „Weil sie ein alter Starrkopf ist. Ich kenne sie. Sie ist entzückend, charmant, eine ganz bezaubernde alte Dame, aber sie weiß, was sie will, und nun will sie gotisch schreiben. ,Ich bin deutsch, ich schreibe deutsche Buchstaben’, ist ihr Argument, und dabei bleibt sie. Jetzt ist also die Frage: Kannst du es tun, willst du es tun?“
„Ich habe doch ja gesagt, Marc, ich tue es schrecklich gern! Hast du das ganze Manuskript bei dir?“
„Ich habe die ersten hundert Seiten. Ich habe heute einen Brief von ihr bekommen und soll dich fragen, ob du mit zwei Mark für die Seite zufrieden sein wirst. Du müßtest dann bitte mit zwei Durchschlägen schreiben.“
„Gut“, sagte ich. „Mache ich.“
Blitzschnell hatte ich gerechnet: Zweihundert Seiten zu zwei Mark – vierhundert Mark würde ich verdienen! Und ob ich das wollte!
Am folgenden Tage waren meine Röcke noch genauso lang wie vorher, und an meiner Unterwäsche fehlten Knöpfe und Träger und Häkchen, und was ich alles hätte ausbessern sollen. Den ganzen Abend hatte ich an der Schreibmaschine verbracht, und dieses Mal war es nun nicht nur Geldgier, es war wirkliches Interesse. Es war ein sehr lustiger Stoff zu schreiben.
Marc hatte mir einen guten Rat gegeben:
„Lies nicht weiter“, sagte er. „Laß es dir selbst neu sein, während du schreibst. Dann ist das Abschreiben nicht so langweilig.“
Das war vernünftig. Es war wirklich eine lustige Arbeit, eine spannende Arbeit, wenn sie auch für die Arme und für den Rücken ermüdend war.
Ein Viertel nach zehn kamen zwei energische mütterliche Hände, nahmen mir das Manuskript weg und legten die Schutzhaube über die Maschine.
„So, meine junge Dame, jetzt ist es schon längst Bettzeit. Wenn du denkst, daß ich dich die ganze Nacht hier schreiben lasse, dann irrst du dich!“
Ich stand auf und streckte die Arme. Jetzt merkte ich,daß ich tatsächlich müde war. „Gesegnet sei die Offizierswitwe Adele Peters“, sagte ich.
„Und gesegnet sei Marc“, fügte ich hinzu. „Aber du, Mutti,kannst du begreifen, woher Marc diese Dame kennt?“
„Ich habe so eine Ahnung“, sagte Mutti. „Als wir hier saßen und plauderten, erzählte er mir beiläufig, daß er fünf Jahre in Berlin gewohnt hat, und zwar bei einem alten Major.“
„Aha, deswegen!“ sagte ich.
„Deswegen was?“
„Deswegen hat er so tadellose Manieren. Da hat er gelernt, wie
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