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Monica Cantieni

Monica Cantieni

Titel: Monica Cantieni Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grünschnabel
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in der Konditorei. Sie mussten sehr müde sein. Den Kaffee ließen sie kalt werden. Es gab lange Pausen. Das war nicht wegen Tonis Deutsch so, und das Deutsch meiner Mutter funktionierte ohne Probleme. Sie war es auch gewohnt, anderen stundenlang mit Sprache auszuhelfen, wenn sie die eigene verloren hatten. Jetzt hatte sie selber keine, und wenn sie und Toni doch redeten, hielten sie mich bei den Händen.
    Wenn der Lehrer fragte, ob es eine neue Wendung gebe, musste ich den Kopf schütteln. Möglicherweise war meiner Mutter die Inspiration ausgegangen. Sie begann, Dinge zu verlegen: Einkaufslisten, Schlüssel, den teuersten Lippenstift, Geld und sogar den Fernsehnachmittag bei der Blondierte n – eine Filmpremiere über die afrikanische Savann e – nur sie zwei, Sekt inklusive.
    Um meine Mutter auf andere Gedanken zu bringen, schmiss ich auf der Einkaufsstraße eine Scheibe ein. Scheiben einschmeißen war etwas vom Ärgsten, was man sich leisten konnte. Tante Joujou und sie konnten sich einen ganzen Tag über eingeschmissene Scheiben in Zürich unterhalten, auch wenn das schon zwei Jahre her war, diese Scheiben waren legendär, sogar Tat hatten sie aus der Fassung gebracht. Er wollte genau wissen, ob es auch seine Versicherung getroffen hatte, immer wieder.
    Meiner Mutter blieb die Spucke für Tage weg, sie konnte es sich nicht erklären, und mein Vater wusste auch nicht mehr weiter. Auf Anraten von Ruth und Walter strich er mir das Taschengeld ersatzlos, sie machten sich am Telefon ernsthaft Sorgen um mich.
    Ich machte mir Sorgen um meine Mutter. Ich beschloss, ihr die Wörterschachtel WENDUNGEN zu zeigen, damit sie nicht in Versuchung kam, mich wieder irgendwo zu vergessen. Vielleicht würde ihr und Toni das auch weiterhelfen bei der Wörtersuche und eine Inspiration sein. Ich war ganz aufgeregt, als meine Mutter erstaunt las: WENDUNGEN, sie streichelte das Holz.
    – Eine von Tats Zigarrenkisten?
    Ich nickte. Lesend wechselte meine Mutter die Farbe fast so schnell wie die Tintenfische, die letzte Woche im Fernsehen zu sehen gewesen waren. Sie sah mich an, als wäre hinter mir ein Gespenst durchs Zimmer gegangen (weiß), warf die Schachtel an die Wand (rot), die WENDUNGEN flatterten in alle Richtungen. Sonst hatte ihr immer gefallen, was dem Lehrer gefiel. Bloß hierbei schienen sie einen völlig verschiedenen Geschmack zu haben. Ohne einen Ton zu sagen, ging sie aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Die WENDUNGEN raschelten und FRISCHE LUFT SCHNAPPEN segelte vor meine Füße.
    Ich blieb sitzen, ich war kurz davor, die Feuerwehr anzurufen. Tat hatte mir eingebläut, im absoluten Notfall ausschließlich die Feuerwehr zu rufen, nicht den Krankenwagen, weil die Feuerwehr in jedem Fall schneller ist. Ein Haus ist in diesem Land kostbarer als ein Mensch, davon war Tat überzeugt.
    Ich rief Tat an, aber es war nur die Nachbarin am Apparat und wollte über den Zwetschgenkuchen reden, der grade im Ofen war, und über den Baum, von dem sie stammten; ein Baum, der Tat Kummer bereiten würde, weil er einem andern Nachbarn Kummer bereitete, da er alt war wie Tat und morsch, wenig Früchte machte, seit Jahren schon. Sie kam auf den Garten zu sprechen, der sich auf meinen Vater freut, weil Tat bloß noch sitzt und wartet, bis die Früchte reif sind, und selbst das würde er bisweilen in seinem Stuhl verschlafen, trotz der vielen Wecker und Uhren im Haus.
    Ich flüsterte in den Hörer, dass Tat in der Feuerwehr ein wichtiger Mann ist und jetzt gebraucht wird wie niemand sonst auf der Welt. Sie holte Luft und schnauzte mich an, sagte, bei euch allen piept’s doch einfach nicht richtig, und legte auf.
    Mein Koffer stand unter dem Bett. Ich zog ihn hervor, starrte ihn an. Mit ihm war ich gekommen. Ich setzte mich neben ihn, machte ihn auf. Ich roch an ihm, er roch kaum. Ich nahm die Brille ab, er roch nicht stärker. Ich versuchte, mich hineinzulegen, aber er war zu klein. Wie sehr ich mir auch Mühe gab, wie sehr ich mich auch einrollte: Ich hatte keinen Platz mehr darin und blieb daneben sitzen, ging das Lexikon der guten Gründe im Kopf zweimal von vorn bis hinten durch. Ich fand nichts, das half. Auch im dicksten Lexikon nicht. Dort muss man immer schon wissen, wonach man sucht.
    Als meine Mutter zurückkam, sammelte sie alle Zettel auf, den Duft von frischen Zitronen im Haar. Sie reichte mir die Schachtel und bat mich draufzutreten.
    Es war schon dunkel, als mein Vater ins Zimmer trat und fragte, ob ich eine

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