Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
Religionsunterricht in der Schule und die Stunden im katholischen Pfarramt meines Heimatortes, die mich auf die erste heilige Kommunion vorbereiten sollten, hatten das ihre dazu beigetragen. Sünder kamen in die Hölle, das war mir schauerlich bewusst. Und nun hatte der Teufel dieses Gespenst geschickt, um mich zu holen.
Ich war ein schlechtes Kind. Ich hatte Verbotenes ausgesprochen. Wie dankbar musste ich meinem Vater sein, dass er mich trotzdem liebte! Und wie undankbar war ich, dass ich an seiner Liebe herummäkelte! Hatte der Teufel nicht ganz Recht, mich holen zu wollen?
»Lieber Gott«, betete ich, »bitte mach, dass ich nie wieder darüber spreche. Mach, dass ich ein gutes Mädchen werde. Amen.«
Von nun an war ich ohne jeden Vorbehalt ein gutes Mädchen, das seinem Vater Lust und Freude schenkte. Mein Widerstand war gebrochen. Sein Geheimnis war endgültig auch zu meinem geworden.
XV
Der Selbsterhaltungstrieb des Menschen ist so stark, dass, wenn in existenzbedrohenden Situationen der Verstand nicht weiterweiß, das Unterbewusstsein nach Rettungsmöglichkeiten fahndet. Irgendwann begriff ich instinktiv, dass das Krankenhaus ein sicherer Ort für mich war. Irgendwann merkte ich, dass der Husten eine Art Rettung sein konnte.
Ich weiß nicht mehr, wie oft ich als Kind im Krankenhaus landete wegen Krupphusten, wegen Mandelentzündung und Polypen – und wegen diverser Kopfverletzungen. Sicher ist, dass ich zumindest die Kopfverletzungen selbst herbeiführte. Ich rannte einfach mit dem Kopf gegen die Wand – nahm Anlauf und knallte dagegen. Wer dies einmal mit ansehen musste, glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Ein Kind, das sich mutwillig blutige Beulen schlägt und nicht eine Miene dabei verzieht – war das noch normal?
»Sie muss krank sein«, sagte Tante Inge. »Ein gesundes Kind tut so etwas nicht.«
»Sie hat halt einen Dickschädel«, antwortete meine Mutter. »Sie will einfach immer mit dem Kopf durch die Wand. Das ist alles.«
Sie legte mir ein Pflaster auf oder hielt eine kalte Messerklinge an das wachsende Horn auf meiner Stirn. Das war’s. Warum ich mich immer wieder selbst verletzte, interessierte sie nicht.
Ich selbst war mir meiner Gründe auch noch nicht bewusst. Ich zog nur, wie ein Tier, aus Erfahrungen Lehren. Ich lernte: Wenn ich mich verletzte, erhielt ich Zuwendung. Dann kümmerte man sich um mich, nahm mich ernst; im schönsten Fall streichelte mich eine freundliche, sanfte Hand und schenkte mir eine Berührung, für die ich nicht bezahlen musste.
Bei meinem Vater, den ich von allen Menschen auf der Welt am verzweifeltsten liebte, funktionierte dies allerdings nicht. Es regte ihn nicht sonderlich auf, wenn ich meinen Kopf gegen die Wand rammte. Er blickte nicht einmal von seiner Zeitung auf. »Wenn du so weitermachst, kriegst du einen Dachschaden«, sagte er nur. »Willst du das?«
Was ein Dachschaden war, wusste ich. In der Nachbarschaft gab es einen Mann, der einen hatte. Er schielte und ließ die Zunge aus dem Mund hängen, und manchmal machte er seine Hosen nass. Nein, einen Dachschaden wollte ich nicht. Trotzdem rannte ich weiter gegen die Wand.
»Tu doch, was du nicht lassen kannst«, sagte mein Vater. »Ein Gesicht wie ’ne Bratpfanne ist auch was Schönes. Aber wenn du glaubst, dass du mich damit erpressen kannst, bist du schief gewickelt!«
Was war das: erpressen? Stefan klärte mich auf: »Erpressen ist, wenn einer was will, was der andere nicht will, und was hat, dass der andere es dann doch tun muss.«
Ich rannte mit dem Kopf gegen die Wand, damit mein Vater mich trösten und streicheln und in den Arm nehmen sollte, ohne Liebe mit mir zu machen. Nach dem, was mein Bruder gesagt hatte, war das ein Erpressungsversuch. Aber mein Vater hatte klargemacht, dass er nicht auf meine Wünsche eingehen würde. Er war nicht erpressbar – jedenfalls nicht durch mich. Also hörte ich allmählich auf, mit dem Kopf gegen die Wand zu laufen.
Für eine, die laut Papas Aussage einen Intelligenzquotienten von drei hatte – »Blechdose hat vier« –, fand ich erstaunlich schnell ein anderes wirkungsvolles Mittel, mein Ziel zu erreichen. Heute bin ich mir sicher, dass ich schon von klein auf wusste, welche Macht ich mit einem schweren Hustenanfall in der Hand hatte, und auch früh erkannte, wie ich einen solchen forcieren oder unterdrücken konnte.
Den wohl schwersten Krupphustenanfall meines Lebens bekam ich wenige Tage nach der Gespensternacht. Er endete beinahe
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