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Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)

Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)

Titel: Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Jäckel
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lassen!
    Kaum waren, nachdem Stefan die Tür geschlossen hatte, die Holzbotten des lieben Herrn Nachbar im Hausflur davongeklappert, schnappte ich mir ein Springseil und begann wie verrückt zu springen und zu trampeln. Gummitwist war nichts dagegen.
    Es dauerte nur Sekunden, da hämmerte es schon wieder an die Wohnungstür. Stefan stürzte ins Zimmer. Er war stark, aber in Sachen Schnelligkeit war ich ihm überlegen – und ich hatte zu treten gelernt. Sein Schienbein war eine prächtige Zielscheibe. Stefan schrie auf, und ich entwischte ihm. »Altes Loch, schnapp mich doch!« Zwischen den Sesseln stand ich sicher verschanzt, konnte nach rechts ausweichen, nach links.
    Stefan bückte sich. Ein Ruck, und der Teppich glitt unter mir weg. Ehe ich mich’s versah, lag ich auf der Nase, und Stefan stand breit über mir. Ich hatte keine Chance, seiner Faust auszuweichen. In meinem Kopf knirschte es. Blut schoss aus meiner geplatzten Lippe. Stefan zerrte mich hoch, bleich im Gesicht, die Knöchel rot, und schüttelte mich, die Hand in meinem Genick, wie einen Hund. »Tu das nie wieder, hörst du!«
    Ich hustete, würgte, spuckte Blut. Mir war übel. Torkelnd fand ich den Weg ins Bad, wusch mir Gesicht und Hände. Ich musste nicht in den Spiegel sehen, um zu wissen: Meine Krone war weg und der halbe Zahn gleich mit. Was würde Papa sagen?
    Stefan stand hinter mir in der Badezimmertür. »Du bist gestolpert«, sagte er. »Bist über den Teppich gefallen. Kann jedem passieren, dem Dümmsten zuerst.«
    Papas Lieblingsspruch. Die Dümmste war ich, und Dummheit gehörte bestraft. Papa würde sich schon eine passende »Belohnung« ausdenken.
    Der Nachbar, der liebe Freund der Familie, der nie auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlor, wenn des Nachts das Schmerz- und Lustgeschrei meiner Eltern das Haus zum Zittern brachte – dieser Nachbar schwärzte mich bei meinem Vater an. Das Theater, das ich veranstaltete, sei Ruhestörung und Körperverletzung obendrein. Wenn es so schlimm um mich stünde, müsse man mich eben einliefern. Noch einmal lasse er sich so etwas nicht bieten.
    Wieder einmal hatte ich erreicht, was mein Vater am meisten hasste: Man zeigte mit den Fingern auf uns, zerriss sich das Maul. Die Familie B. war aus der schützenden Menge herausgetreten. Man könnte etwas entdecken.
    Ich war zu dumm, die Angst zu erkennen, welche meinen Vater zu einem rasenden Irren machte, der mich wie ein Berserker schlug, um danach seine Lust an mir zu kühlen. Wäre irgendetwas anders geworden, wenn ich diese Angst begriffen hätte? Würde Georg dann noch leben?
    Mit Stefan hatte ich eine Rechnung offen. Ich hatte bezahlt, er nicht. Ich lauerte auf eine Chance, mich zu rächen. Mein Zahn war der Stachel in meinem Fleisch. Die Prozedur auf dem Zahnarztsessel schürte meinen Zorn.
    Als für mich die Gelegenheit kam, gab es kein Halten mehr. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich heute noch die Fleischwunde vor mir, die ich Stefan zufügte – mit dem Springseil quer über die nackten Beine. Er schrie, wie ich niemals hatte schreien dürfen. Sein Schreien tat mir gut. Es war, als schrie er für mich.
    Als Stefans Wunde im Krankenhaus genäht worden war und er humpelnd nach Hause zurückkam, stand eine Kerze an seinem Bett. Er wusste, von wem sie war. Ich sah es an seinem Blick. Und als er sie anzündete, wusste ich, dass er mir nicht mehr böse war.
    Für positive Gefühle gab es bei uns keine Worte.

XVII
    In dieser Zeit – ich war damals zwölf – glich unser Kinderzimmer mehr und mehr einem Sexladen. Die Regale und der Fußboden waren übersät mit Pornoheften und Pornokassetten, Pornoposter hingen an allen Wänden. Stefan lag inmitten dieses Unrats und befriedigte sich selbst.
    Nachträglich kommt es mir so vor, als hätte ich meinen großen Bruder von seinem 15. Lebensjahr an fast nur noch mit nacktem Unterkörper erlebt. Wenn das Gestöhne meiner Eltern und ihrer Gäste mal nicht zu hören war, dann hörte ich Stefans Gestöhne – und wenn meine Eltern es lautstark miteinander und mit fremden Männern trieben, dann onanierte er erst recht. Meine jüngeren Brüder und ich gewöhnten uns allmählich so an den Anblick, dass wir uns davon nicht einmal bei den Hausaufgaben oder beim Spiel stören ließen.
    Wie sagte doch Stefan so schön vor Gericht? »Wir lebten eben zusammen.« Stimmt – keiner von uns hatte ein eigenes Leben. Keines von uns Kindern hatte auch nur den geringsten Platz für sich selbst. Die Betten wurden

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