Monrepos oder die Kaelte der Macht
bewegter Geschäftsleute und ergriffener Provinzpolitiker.
Der Ablauf des gastrospirituellen Ereignisses folgte einem einfach zu begreifenden Schema: Man hatte jeweils zehn bis fünfzehn Sekunden Zeit, um einen Schluck Kaffee oder einen Bissen zu sich zu nehmen, dann unterbrach ein Gebet, ein Bibeltext oder ein Lied das profane Tun. Der Präsident betete für den Weltfrieden, für Amerikas Stärke und gegen den Kommunismus, der Vizepräsident betete für die tapferen Soldaten und für die Politik des Präsidenten, und professionelle Prediger erflehten den Segen für beide.
Nach einer halben Stunde hatte Gundelach eine Tasse Kaffee getrunken, mit seinen Nachbarn Bill und Steven ein freundliches ›Hello‹ getauscht und vergebens die Butter angefordert. Dafür war sein Kreislauf okay, denn Beten und Singen erfolgten im Stehen. Nachdem ein Geistlicher für Mrs. Reagan und ihr schweres Amt um himmlischen Beistand ersucht hatte, startete Gundelach den letzten Versuch, an die Butter zu kommen; nach der Fürbitte für Mrs. Bush und ihr schweres Amt gab er es entmutigt auf. Mit einer gewissen Wehmut dachte er an Houston; dort hatte man während des Programms weiter essen dürfen …
Oskar Specht war zwar auch im Saal plaziert, doch stand sein Tisch strategisch günstig nahe der Empore. Dank einer geschickten, das Ende der Veranstaltung geistesgegenwärtig nutzenden Regie gelang es, den Ministerpräsidenten bei Mr. Reagan, Mr. Bush und Finanzminister Reagan, die sich gerade im Aufbruch befanden, vorbeizulotsen.
Specht konnte sich vorstellen, Hände schütteln und auf seine bevorstehenden Gespräche mit Stoessel und Eugene Rostow, dem Chef der Abrüstungsbehörde, hinweisen. Die Angesprochenen reagierten erfreut und wünschten alles Gute. In der Pressemitteilung, die Wiener abends nach Deutschland absetzte, vermeldete er ein ›informelles Treffen‹ Spechts mit Präsident Reagan, Vizepräsident Bush und Finanzminister Reagan.
Die nächsten zwei Tage waren ein einziger Grüß-Gott-Marathon durch immer neue Gebäude, Vorzimmer und Chefsuiten. Wie die Heuschrecken hüpften sie zwischen Autos und Fahrstühlen hin und her und palaverten im Viertelstundentakt mit Gott und der Welt über Gott und die Welt. Der Uno-Generalsekretär wurde zu Namibia, Afghanistan, Polen und Lateinamerika befragt und über die besonderen Leistungen des Landes in der Entwicklungshilfe aufgeklärt. Zwölf Botschafter aus Entwicklungsländern, Vertreter der Weltbank und der Administrator des ›United Nations Development Program‹ erhielten die freudige Nachricht, Specht werde ihnen Entwicklungshelfer und Unternehmer schicken, die ›konkrete Projekte‹ vereinbaren sollten.
In Washington, der nächsten Station, bewegten sie sich dann endgültig so, als gedächten sie auf den Fluren des State Department und des Repräsentantenhauses zu überwintern. Von Stoessel zu Niles, dem Unterstaatssekretär, von Niles zu Beamten der Europaabteilung, von Hamilton, dem Leiter des Europa-Unterausschusses, zu Mitgliedern und Beratern des Repräsentantenhauses, von denen zu Eugene Rostow.
Specht bekräftigte überall das Festhalten am Nato-Doppelbeschluß, doch er tat es äußerst variantenreich: Mal als Ministerpräsident jenes Landes, in dem die meisten Pershing II-Raketen aufgestellt werden sollten, dann wieder als stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU oder als Freund des Berliner Senators für Bundesangelegenheiten, Norbert Blüm, der gerade erst im Auftrag der CDU durch Washingtoner Amtsstuben getourt war. Selten versäumte er den Hinweis, daß seine Reise eng mit dem Auswärtigen Amt Hans Dietrich Genschers abgestimmt sei, und wo ihm ein Schuß Pathos angebracht schien, ernannte er sich zum Vertreter der nicht auf den Straßen demonstrierenden Deutschen, die treu an der Seite des amerikanischen Volkes stünden.
Er kratzte an bundespolitischen Aspekten zusammen, was nur zusammenzukratzen war, um das Odium eines Provinzgouverneurs auf Profilierungstrip zu vermeiden. Stellenweise gelang ihm das ganz gut. Häufiger jedoch hinderte ihn die knappe Zeit, die seine Gegenüber mitbrachten (und je höhergestellt sie waren, um so weniger Zeit brachten sie mit), sich wunschgemäß zu entfalten. Bis er die Höflichkeitsfloskeln der Diplomatie erduldet, die eigenen Funktionen erläutert und die geopolitische Bedeutung seines Landes herausgestellt hatte, war das vorgegebene Zeitbudget oft schon aufgezehrt. Dann reichte es nur noch zu einem weltpolitischen
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