Monrepos oder die Kaelte der Macht
erörtert und ernstgenommen. Politiker und Professoren, Verbände und Vorstände analysierten und interpretierten. Der Blätterwald rauschte von Nord bis Süd, raschelte Zustimmung oder Tadel, Häme und Hymne; immer aber hellwaches Interesse. Es roch nach Kampfansage an den Kanzler.
Der aber schwieg. Eisern.
Specht freute sich über den Rummel und gab Interviews fast rund um die Uhr. Den Fehdehandschuh jedoch, den alle im Ring gesehen haben wollten, erklärte er für Sinnestäuschung. Und selbst wenn er dort liegen sollte – er habe ihn ganz bestimmt nicht geworfen.
Wogegen sich wenig sagen ließ.
Anfang Oktober stellte Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein die ›Wende nach vorn‹ in seinem Bonner Büro vor. Specht, Wiener und Gundelach fuhren zunächst zur Landesvertretung, wo sie von Staatssekretär Drautz überschwenglich begrüßt wurden. Anschließend gingen sie gemeinsam zum Redaktionsgebäude hinüber, das nur eine Querstraße entfernt lag. Gundelach trug Spechts Aktentasche. In der Terminmappe befand sich ein Vermerk, in dem der Aufbau und die Kernaussagen des Buchs stichwortartig zusammengestellt waren.
Das Gedränge in dem kleinen, schmucklosen Empfangsraum war beachtlich. Specht wurde von Journalisten umlagert, suchte aber seinerseits sofort Rudolf Augstein, der sich mit Kurt Biedenkopf unterhielt. Die Begrüßung der Drei, von heftigem Fotografieren begleitet, war lausbubenhaft-herzlich. Lachen und Lärmen erfüllten das Zimmer. Kurz darauf steigerte sich die Unruhe noch, denn Außenminister Genscher betrat die Szene und steuerte mit dem Ruf ›Wo ist denn der Vordenker?‹ auf Specht zu.
Ein Sektglas in der Hand, stand Gundelach neben dem Büchertisch voller Freiexemplare und beobachtete das Treiben. Außer der politischen Prominenz und dem Redakteur, der mit Schieborn und ihm den Titel ausgeknobelt hatte, kannte er niemanden. Wiener dagegen bewegte sich zwischen den Journalisten wie ein Fisch im Wasser. Er redete und gestikulierte, und wenn sich jemand Notizen machte, registrierte er es mit wohlgefälligem Seitenblick.
Dann verlas Augstein eine kurze Laudatio auf Spechts Veröffentlichung. Er sprach stockend und unkonzentriert und vermerkte mit einigem Bedauern, daß der Autor sich persönlicher Angriffe auf den Kanzler enthalten habe. Überhaupt lese sich das ganze nicht so ›süffig‹, wie man es von Spechts freier Rede her gewohnt sei. Aber, meinte er, der Inhalt könne sich sehen lassen und stelle eine Herausforderung für Politik und Gesellschaft dar. Zwar habe er, Augstein, mit dem Begriff ›Versöhnungsgesellschaft‹ gewisse Schwierigkeiten, aber er denke doch, daß damit keine Aussitzgesellschaft à la Kohl gemeint sei. Eher schon das geistige Modell für eine Große Koalition, über deren Kanzler er vorerst mal noch nicht spekulieren wolle.
Die Zuhörer lachten verständnisinnig.
Specht antwortete nur kurz und übte sich in Bescheidenheit. (Bei späteren Buchvorträgen und Autorenlesungen schmückte er die Leiden schriftstellernder Politiker anschaulicher aus). Danach gab er Interviews, signierte und genoß den Small talk mit Genscher.
Später zog man sich ins Weinhaus Maternus zurück, aß und trank und holte nach, was der ›Wende‹ an Süffigkeit fehlte. Specht sah sich unter anderem veranlaßt, seine Zurückhaltung in Sachen Kanzlerkritik zu rechtfertigen.
Ich kann doch Helmut Kohl nicht schon in der Mitte seiner ersten Amtsperiode frontal angehen, erklärte er Augstein, und damit den Vorwand für die nächsten miesen Wahlergebnisse der CDU liefern. Das würde nur zu einer Solidarisierung mit Kohl führen oder Stoltenberg ans Ruder bringen. Das sah die Runde ein, zumal Biedenkopf, der professorale Stratege, zustimmend nickte.
Im November wurde die zweite und dritte Auflage gedruckt, im Dezember die vierte und fünfte. Fast siebzigtausend verkaufter Specht-Bücher in drei Monaten und ein ansehnlicher Mittelplatz in den Bestsellerlisten – Oskar Spechts Zukunftsvisionen sorgten für Gesprächsstoff. Sie taugten für politikwissenschaftliche Seminare wie für weihnachtliche Widmungswünsche von Lieschen Müller bis zum Bundespräsidenten. Die zu erfüllen, kostete Specht Stunden, in denen er, eingemauert von silberglänzenden Büchertürmen, seufzend und glücklich an seinem Schreibtisch saß und – schrieb.
Im November flog Gundelach mit Wrangel und dem Prorektor der Universität, Professor Diderichs, nach China. Specht hatte ohne Zögern zugestimmt und ihm sogar ein
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