Monrepos oder die Kaelte der Macht
und grollte es in den Bergen, und selbst in der Hauptstadt stürzten die Sammeltassen aus den Regalen. Um acht Uhr kreiste Specht schon im Polizeihubschrauber über einer Kleinstadt, in der kein Haus heil geblieben war. Die Einwohner fluchten und behaupteten, durch die Luftwirbel der tieffliegenden Maschine seien auch noch die letzten Dachziegel heruntergeweht worden. Als sie hörten, wer ihnen den frühen Besuch abgestattet hatte, unterließen sie das Gerede.
Gundelach wurde durch das Erdbeben an seinen ersten Parkspaziergang erinnert. Die Berge, dachte er, haben sich aus ihrer Tiefe zurückgemeldet. Vielleicht hatte es ja doch eine mystische Bewandtnis mit ihnen. Nicht für jeden, aber für die in ihren Tälern und Schluchten Aufgewachsenen. Damals, nach der inneren Erschütterung im Park, hatte Heike plötzlich vor ihm gestanden und ihn zum ersten Mal geküßt. Jetzt schwankte die Erde wie sonst nur in Fernsehberichten aus fernen Ländern, und in drei Wochen war Hochzeit. Das hatte nichts miteinander zu tun und war doch merkwürdig.
Er arbeitete intensiv an der Parteitagsrede. Zunächst versuchte er, Oskar Spechts Redeschwall in gesetzten Worten wiederzugeben. Er hatte sich – auch ohne mitzuschreiben – die geplanten Aktionen und deren Begründung gut gemerkt. Auch den Spechtschen Duktus nachzuempfinden, bereitete ihm wenig Schwierigkeiten. Den nervösen, hyperaktiven Typus hatte er schon als Breisingers Leserbriefproduzent gut draufgehabt. Solche Zeitgenossen dachten und schrieben in Sätzen wie Wollknäuel und webten daraus ihre weltanschaulichen Flickenteppiche.
Doch als er es dann schwarz auf weiß vor sich sah, fand er es für einen Ministerpräsidenten unmöglich. Ohne Übergang, wie Enterhaken, sausten die Gedankensplitter aufs Plankenholz des nächsten Themas nieder. So konnte man in freier Rede sprechen, wenn man es konnte. Das hüpfende Stakkato hatte etwas ungemein Faszinierendes, weil der Zuhörer zu einem atemlosen Wettlauf genötigt wurde, den er, falls er zwischendurch auch nur ein wenig nachdenken wollte, mit Gewißheit verlor. Festgehalten auf Papier aber wirkte es wie eine Parodie. Gundelach erkannte, daß er sich entscheiden mußte zwischen geschriebener Rede und geredeter Schreibe.
Er fand, die Worte eines Regierungschefs, eines neuen, von vielen Hoffnungen begleiteten zumal, sollten ihren Schall überdauern. So entschied er sich für eine völlig neue, weitgespannte Rede, die er mit ›Kontinuität und Neubeginn‹ überschrieb. Sie war gespickt mit visionären Ausblicken und pathetischen Appellen, und Spechts Credo, mehr Bürgernähe wagen zu wollen, war eingebettet in ein stimmungsvolles Gemälde von Land und Leuten. Breisingers rhetorisches Geschick, heimatliche Klänge anzuschlagen, stand mehr als einmal Pate.
Zu seiner Verblüffung gab Specht ihm den Entwurf mit lobenden Worten und nur wenigen Änderungswünschen zurück. Wiener korrigierte gar nichts.
Auf dem Parteitag in Waldsee feierte Specht mit seiner Rede einen fulminanten Erfolg. Die Delegierten steigerten sich in einen wahren Beifallsrausch hinein und klatschten voller Erleichterung Nazideutschland aus dem Saal. Breisingers Verteidigungsrede dagegen prallte am kollektiven christdemokratischen Empfinden, von vollstreckten oder nicht vollstreckten Todesurteilen die Nase voll zu haben, erbarmungslos ab. Nicht einmal zu höflichem Mitgefühl reichte es mehr. Als seine Aufzählung, wem er nachweislich geholfen und Gutes getan habe, nicht enden wollte, gingen die meisten Nichtzuhörer Kaffee trinken oder unterhielten sich lautstark von Tisch zu Tisch.
Gundelach spürte Breisingers Einsamkeit fast körperlich. Da stand einer, der die Macht so gründlich verloren hatte, daß ihm nicht mal mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Ein Ohnmächtiger, Unzugehöriger. Was immer Breisinger an diesem Tag gesagt hätte, es wäre mit ihm in die Sickergrube gestürzt, in der die Partei Verlierer naserümpfend zu ertränken pflegte.
Oskar Specht ließ sich von der unerwarteten Akklamationswoge forttragen; aber noch tat er es eher zögernd, wie ein ungeübter Schwimmer. Als er nach einer Viertelstunde Händeschütteln zufällig Gundelach gegenüberstand, packte er ihn am Arm und sagte: Glückwunsch! Sein Gesicht glänzte vor Freude und Schweiß.
Gundelach stellte ihm Heike Blank vor und verband damit die Nachricht, daß sie nächste Woche heiraten wollten. Er bäte deshalb um zwei Wochen Urlaub, sagte er.
Klar doch, antwortete Specht und
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