Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf

Titel: Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stagg

Vom Netzwerk:

Kühlschrank von oben bis unten bedeckte.
    »Das kriegst du doch in null Komma nichts wieder sauber«, sagte Paul halbherzig. Lorna warf ihm einen vernichtenden Blick zu und wandte sich zum Gehen. Sie hatte genug. Das Ziel ihrer Träume, in dieser Küche köstliche Gerichte zu kreieren, schien mit einem Mal sehr weit weg zu sein.
    Sie nahmen den gleichen Weg zurück durch das große Zimmer, das ihnen nun im Vergleich zu dem Gruselkabinett in der Küche wie ein gemütlicher Wohnraum vorkam, und schritten auf den Flur und die Treppe zu. Paul ging langsam voran. Der Strahl seiner Taschenlampe fiel beim Hinaufgehen auf Jagdszenen, die jedes freie Wandstück zu bedecken schienen. Gehetzte Hirsche, verwundete Wildschweine, flüchtende Pyrenäen-Gämsen – der Treppenaufgang bot eine schier endlose Abfolge toter oder sterbenderTiere des Waldes. Als Paul endlich das Ende der Treppe erreicht hatte, richtete er den Lichtstrahl nach vorn und zuckte zusammen.
    »HERRGOTT!«
    Er wich instinktiv vor dem Ungeheuer zurück, verlor das Gleichgewicht, und die Taschenlampe fiel ihm aus der Hand. Blindlings griff er nach dem Geländer, um nicht die Treppe hinunterzufallen.
    »Was ist denn? Was ist los? Alles in Ordnung?« Lorna war im Nu an seiner Seite.
    Mit einem zittrigen Lachen bückte sich Paul nach der Taschenlampe und richtete das weiche gelbe Licht auf die Wand oben an der Treppe.
    »Himmel!«, quiekste Lorna, als sie das Glasauge eines an der Wand befestigten Hirschkopfes anstarrte. »Oh Gott, das ist …«
    »Scheußlich? Furchtbar? Schauderhaft?«
    Lorna nickte stumm. Der von Motten zerfressene, schief hängende Kopf mit dem einen Glasauge und dem kaputten Geweih machte sie für den Moment sprachlos. Als sie sich wieder gefangen hatte, sagte sie: »Der hat aber beim letzten Mal nicht hier gehangen. Oder kannst du dich noch an ihn erinnern?«
    Paul schüttelte den Kopf. »So was hätte ich nicht vergessen. Hing an der Stelle nicht ein Foto?«
    »Ja, du hast recht. Ein Foto … eine Luftaufnahme von der Auberge .«
    »Tja, Monsieur Loubet muss sich wohl entschieden haben, sie mitzunehmen und uns stattdessen den hier hinzuhängen. Was hätte er am Mittelmeer auch mit einem Hirschkopf anfangen sollen?«
    Sie lachten nervös. Der Klang hallte laut in dem leeren Flur wider und ließ sie erneut zusammenzucken.
    »Lass uns nur einen kurzen Blick in die Gästezimmer werfen«, schlug Paul vor und versuchte, dabei weniger angespannt zu klingen, als er war. »Ich möchte mich gleich noch auf dem Dachboden umschauen, solange es hell ist.«
    Lorna, die dem Scheusal an der Wand nur ungern den Rücken zukehrte, schlich hinter ihm her. Sie kam sich zwar irgendwie albern vor, fand ihr Unbehagen aber dennoch völlig gerechtfertigt.
    Es dauerte nicht lange, den Wäscheraum und die sieben Zimmer, die von beiden Seiten des Flurs abgingen, einem kritischen Blick zu unterziehen. Abgesehen von einer Menge knallbunter Tapeten und vom Holzwurm befallener Schränke, die wahrscheinlich noch aus den Zeiten Napoleons stammten, bestand das einzige potenzielle Problem in den nun nackten Matratzen. Als sie sich die Auberge damals angeschaut hatten, waren alle Betten bezogen gewesen. Nun allerdings, da dem nicht so war, sah man den Matratzen mit ihren zahlreichen Flecken und den gelegentlich kaputten Federn ihr Alter an. Auch einige Bettgestelle befanden sich in keinem guten Zustand mehr: eins wurde sogar nur noch mit einem Seil zusammengehalten, und ein anderes wurde an der Stelle, wo ein Bein abgebrochen war, von einem Stapel Ziegelsteinen gestützt.
    Im Schein der Taschenlampe ergänzte Lorna ihre immer länger werdende To-do-Liste. Sie begann sich zu fragen, ob es nicht vielleicht ein wenig optimistisch gewesen war, nur ein Notizbuch mitzubringen. Insbesondere, da für den Wäscheraum schon eine ganze Seite draufgegangen war. Die meisten Betttücher waren zu alt oder zu fleckig, um sie weiter zu verwenden, und die Handtücher so abgenutzt, dass von flauschig keine Rede mehr sein konnte.
    »Bist du bereit für den Dachboden?«, fragte Paul, als Lorna mit ihren Notizen fertig war.
    »Und wie! Viel schlimmer kann es ja nicht mehr werden.«
    Paul schwenkte die Tür auf, hinter der es nach oben ging, trat aber unverzüglich zurück und warf Lorna ein gequältes Lächeln zu.
    »Da wäre ich mir nicht so sicher.«
    Sie folgte dem Strahl der Taschenlampe, der in den Tiefen des dunklen Treppenaufgangs verschwand, zuvor aber haufenweise dicke Spinnweben