Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf
Chloé auf sie zugelaufen kam, brach sie das Gespräch ab, um ihr einen Kuss zu geben. Chloé fühlte Annies trockene Haut rau an ihrer Wange. Auch wenn sie Annie über alles liebte, hielt Chloé stets die Luft an, wenn Annie sie zur Begrüßung in ihre Arme schloss, denn Annie roch ständig nach Kühen – und nicht etwa nach dem milchigen Teil.
»UnwiegehschdennmeinerKleinen? WardieSchuleschoschlimmieimmer?«
Chloé verzog das Gesicht und nickte.
»Madame Soum hat mir zusätzliche Hausaufgaben aufgebrummt!«
»Schon wieder?«, fragte Stephanie mit scharfem Tonfall. »Hast du vor dich hin geträumt? Wir hatten uns doch darüber unterhalten!«
Chloé scharrte mit den Füßen und starrte zu Boden.
Annie schnaubte, legte eine runzelige Hand auf Chloés Kopf und strich ihr über die schwarzen Locken.
»HalbschowildChloé«, kicherte sie. »MadamischnealteSchrulle!«
»Annie! Ermutige sie nicht noch!« Aber Chloé konnte sehen, dass Maman ein Lächeln unterdrücken musste. »So, dann mal los. Lass uns kurz in der Auberge vorbeischauen, und dann geht’s nach Hause und du setzt dich an deine Hausaufgaben.«
Als sie sich bückte, um den Ranzen aufzuheben, den Chloe zu Boden geworfen hatte – der erste Impuls ihrerTochter bestand immer darin, die Reste des Schultages so schnell wie möglich loszuwerden –, deutete Stephanie auf die beiden prallgefüllten Einkaufstaschen zu Annies Füßen.
»Soll ich dir die Taschen auch bestimmt nicht zum Hof hinauftragen?«, fragte sie.
Annie, die kein Auto fahren konnte und auch nicht willens war, es zu lernen, marschierte einmal in der Woche zur Épicerie , um ihre Haupteinkäufe zu erledigen. Für den Rest war sie auf Verkaufswagen angewiesen. Aber sie verteidigte erbittert ihre Eigenständigkeit, wenn es darum ging, ihre Einkäufe nach Hause zu schaffen, daher war ihre Antwort keine wirkliche Überraschung.
»Alschowennischdaschmalnischmerkanndannwarschdasch.«
»Ganz sicher?«
»Aberja. Schagmirwieschdadrübengelaufenisch.«
Sie nickte kurz zur Auberge hinüber, tätschelte Chloés Kopf ein letztes Mal wie bei einem Lieblingshund, hob dann ihre Einkaufstaschen auf und begann ihren langsamen Marsch den Hügel hinauf zu ihrem kleinen Hof in Picarets.
»Wie sehe ich aus?«, fragte Stephanie ihre Tochter, sobald Annie außer Hörweite war.
Chloé bemerkte erst jetzt das Erscheinungsbild ihrer Maman. Anstelle ihrer gewöhnlichen Kleidung, die meist aus zu großen Pullovern und wallenden, vielfarbigen Röcken bestand, trug sie ihre beste Jeans, eine weiße Hemdbluse und eine modische Jacke. Und wenn sich Chloé nicht irrte, waren die Jeans und die Bluse sogar gebügelt! Ihr Haar hatte sie, so gut es eben ging, gebändigt, die roten Locken zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ihre riesigen Kreolen waren durch konservative Goldohrstecker ersetzt worden. Und davon zierten nur jeweils zwei jedes ihrer Ohrläppchen!
Chloé wusste nicht genau, wie sie es beschreiben sollte.
»Du siehst irgendwie … ordentlich aus.«
»Wie eine Kellnerin?«
»Na ja … ich denke schon. Warum?«
Stephanie deutete zur Auberge hinüber.
»Nein, Maman! Das kannst du nicht! Du weißt doch, was beim letzten Mal passiert ist.«
Stephanie setzte sich in Bewegung, und Chloé begriff, dass sie es ernst meinte.
»Aber du hast es doch selbst gesagt, Maman«, keuchte sie, als sie hinter ihrer Mutter herrannte und versuchte, mit ihren größeren Schritten mitzuhalten. »Nachdem dich Monsieur Loubet gefeuert hat, hast du gesagt, dass du nicht mehr kellnern würdest. Du hast es gehasst!«
Stephanie blieb unvermittelt stehen und wandte sich ihrer Tochter zu, deren Züge vor Besorgnis so angespannt waren, wie es eigentlich Erwachsenen vorbehalten war. Sie legte ihre Hände um Chloés Gesicht und streichelte sanft ihre Wangen.
»Ich muss es aber tun, mein Schatz. Wir haben keine andere Wahl. Wir brauchen das Geld.«
»Aber ich könnte ja mit der Schule aufhören und arbeiten gehen.«
Stephanie lachte leise. »Du bist neun, Chloé! Ich sehe deine gute Absicht, aber du musst weiter zur Schule gehen. Wird schon nicht so schlimm werden«, sagte sie, legte den Finger unter Chloés Kinn und hob deren gesenkten Kopf, sodass sie ihr ins Gesicht blicken konnte. »Die beiden scheinen doch sehr nett zu sein.«
»Sie werden bestimmt nicht mehr nett sein, wenn du … wenn du noch mal die Beherrschung verlierst.«
»Das ist mir doch nur ein einziges Mal passiert«, erwiderte Stephanie. »Der Kerl hätte mich
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