Monströs (German Edition)
Himmel.
Vorsichtig drehte Ram sich zu Paul um. Wie sollte er den Jungen hier weg bekommen. Wenn er jetzt einfach aufstand und weiter rutschte, konnte er ihm nicht mehr helfen. In was für eine Situation hatte er sie nur gebracht. Er hatte nur helfen wollen und viel zu viel riskiert. Das war ihm jetzt klar. Er hätte in seinem Keller bleiben sollen. Er war nicht geschaffen für die wirkliche Welt. Vor allem fühlte er sich viel zu schwach, den Jungen hinauf zu den sicheren Gleisen zu schleppen. Er musste ihn dazu bringen, von selbst hinaufzugehen.
»Paul, du musst jetzt ganz mutig sein, dreh dich um und klettere wie ein Hund oder eine Katze es tun würde auf allen Vieren nach oben, zurück zum Motorrad.«
Der Junge zeigte keine Reaktion.
»Paul, du willst doch zu deinem Vater. Er würde dich so gerne in den Arm nehmen. Es ist nicht mehr weit. Wenn wir es zurück zum Motorrad schaffen, sind wir so gut wie da.«
Ram hasste es, den Kleinen anlügen zu müssen, aber wenn das keine Notlüge war, was dann? Und es funktionierte. Paul tat, was Ram ihm gesagt hatte. Leicht und geschmeidig wie ein Schneetiger bewegte er sich nach oben. Als er einen Vorsprung von mehreren Metern hatte, folgte Ram ihm nach. Eine Minute später saß Ram völlig erschöpft oben auf den Gleisen, während Paul abmarschbereit vor ihm stand und auf ihn herabsah. Der Blick des Jungen war starr. Aber Ram wusste, dass er von ihm erwartete, ihn jetzt zu seinem Vater zu bringen. Doch das würde nicht funktionieren. Bis hinauf zum Hotel konnten sie unmöglich zu Fuß gehen. Sie mussten warten, bis der Zug von unten kam. Außerdem fühlte Ram sich zu schwach für einen Marsch durch die Kälte. Andererseits, wenn sie hier warteten, würde Paul nach kurzer Zeit wieder hysterisch werden. Also rappelte Ram sich auf und schleppte sich langsam an den Gleisen entlang den Berg hinauf. Der Zug würde sie bald einholen. Paul trottete mit gesenktem Kopf neben ihm her. Ram spürte, dass er nicht mehr lange würde gehen können. Seine Beine waren wie Gummi. Schon bald würden sie ihn nicht mehr tragen. Die Wunde an seinem Kopf hatte aufgehört zu bluten. Aber ihm war schwindlig. Er setzte sich in den Schnee. Paul zerrte an seinem Arm.
»Will zu meinem Papa, will zu meinem Papa.« Jetzt weinte der Junge wieder bitterlich. Offensichtlich hatte er begriffen, dass Ram ihm eine Lüge aufgetischt hatte. Wo blieb nur der verdammte Zug? Nach Rams Zeitempfinden hätte er längst hier sein müssen. Dann sah er die sich bewegenden Lichtkegel zweier Taschenlampen. Sie kamen von oben. Wer konnte das sein? Der Schein einer Lampe traf sein Gesicht und blendete ihn.
»Da vorne sind sie!«, rief ein Mann, dessen Stimme er noch nie zuvor gehört hatte.
60
Man sagt, im Angesicht des Todes huscht das ganze Leben noch einmal an einem vorbei. Martin konnte das nicht bestätigen.
Das Telefonkabel, dessen Enden Eddie um seine Handgelenke gewickelt und um Martins Hals geschlungen hatte, drang knapp unter Martins Kehlkopf tief in die Haut ein und schnürte ihm die Luft ab. Eddie stand hinter dem Sitz, an den er Martin gefesselt hatte, und zog die Schnur über Kreuz mit ganzer Kraft zusammen. Martin hatte das Gefühl sein Kopf würde augenblicklich explodieren. Er versuchte, mit den Halsmuskeln dagegen zu halten, aber es war zwecklos. Martins Zunge quoll heraus und seine Augen traten vor. In wenigen Sekunden wäre seine Luftröhre zerquetscht.
Als Kind war er gerne getaucht. Er hatte die Luft immer so lange wie möglich angehalten. Dabei hatte er sich vorgestellt, wie es wäre, nicht mehr auftauchen zu können, wie es wäre, zu ersticken. Es musste einer der schrecklichsten Tode sein. Erst wenn der Atemreflex übermächtig wurde, war er aufgetaucht und hatte die Luft gierig eingesaugt. Jetzt dachte er daran und fühlte sich so ähnlich wie ein in der Tiefe des Meeres gefangener Taucher ohne Sauerstoffflasche. Es gab keine Hoffnung mehr.
In einer Beziehung lagen die Leute mit Todeserfahrung aber richtig. Schade, dass er es keinem mehr würde erzählen können. Er sah tatsächlich dieses helle Licht, von dem alle sprachen. Das Licht am Ende des Tunnels. Ein heller Punkt umgeben von Dunkelheit. Mehr als das, nahm Martin nicht mehr wahr. Sein Gehirn lief auf dem Notprogramm.
Doch was er nicht wusste, dieses Licht war keine Einbildung. Es war wirklich da. Und Kaltenbach sah es auch. Es blendete ihn sogar. Da war eine verdammte Taschenlampe.
Der Lichtstrahl der Lampe traf Raphael
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