Monströs (German Edition)
nur zu gern an diese Lösung glauben, aber die Wahrheit war, Anna war tot.
Er stürzte zum Fenster und riss es auf, in der Hoffnung, die ins Zimmer kriechende Kälte, könnte die altbekannten, wieder aufgebrochenen, seelischen Schmerzen betäuben. Doch weit gefehlt. Die Nachricht hatte ihn wieder zurückkatapultiert. Er sah sich ins Haus rennen. Überall waren Polizeibeamte, Absperrbänder und Leute in weißen Einwegoverallen zum Sichern der Spuren. Der damals dreijährige Paul saß unten im Wohnzimmer mit einer ihm unbekannten Frau auf dem Boden und spielte mit den Bausteinen. Später erfuhr er, dass die Frau eine Kinderpsychologin war. Er rannte die Treppen hinauf.
Sein Vater fing ihn vor der Badezimmertür ab, hielt ihn mit beiden Armen umklammert und zerrte ihn von der Tür weg. Tu dir das nicht an, Junge, hatte er immer wieder gesagt. Behalte sie in guter Erinnerung. Du willst das nicht wirklich sehen, glaube mir. Martin hatte kurz über Karls Schulter blicken können und Annas Haare und Stirn aus der Wanne lugen sehen. Dann hatte er sich dem Drängen seines Vaters gebeugt und sich aufs Bett gesetzt. Wie betäubt hatte er miterlebt, wie der Sarg ins Haus und wieder hinaus transportiert wurde. Schon bald hatte ihm der Kommissar, der den Vorfall untersuchte wie durch Watte mitgeteilt, dass es sich um Selbstmord handle. Seltsam sei lediglich, dass es keinen Abschiedsbrief gebe. Das sei zwar selten, komme bei extrem verzweifelten Menschen, die sich einem spontanen Impuls folgend das Leben nähmen, aber hin und wieder vor. Fremdverschulden könne dennoch ausgeschlossen werden, so dass es keine weiteren Ermittlungen gäbe. Später erzählte ihm Karl, dass Pauls Erzieherin ihn angerufen hatte, weil Anna Paul nicht wie gewohnt um zwölf Uhr vom Kindergarten abgeholt hatte. Karl hatte daraufhin Paul abgeholt und nach Hause gebracht. Karl hatte Anna dann in der Wanne gefunden und leider hatte auch Paul sie kurz so gesehen, tot, in der Badewanne. Das Wasser rot vom Blut ihrer aufgesäbelten Pulsadern.
Die Bilder von damals waren nun wieder da. Groß, in Farbe und Martins Schreie, nein, nein, das kann doch nicht sein!, die er ausgestoßen hatte, als er mit Karl vor dem Bad um Einlass gerungen hatte, tönten wieder und wieder in seinem Kopf. Vielleicht gab es keinen Abschiedsbrief, weil es nicht Anna war, die in der Wanne lag, dachte er. Dann schloss er die Augen und biss die Zähne zusammen. Das ist alles Unsinn. Hör auf damit.
Martins Blick fiel auf die Minibar. Deren Inhalt barg die Medizin, welche die Vergangenheit sicher zum Ruhen bringen konnte. Er wusste, er durfte nicht trinken. Er hatte sich geschworen, keinen Alkohol mehr anzurühren. In diesem Moment fiel es ihm so schwer, wie schon ewig nicht mehr. Er sah vor seinem geistigen Auge, wie er die kleine Kühlschranktür zur Minibar öffnete und sich ein kleines Fläschchen Wodka genehmigte. Er spürte, wie der kalte Alkohol betäubend seine Kehle hinunter glitt. Das Wohlgefühl, das sich in ihm ausbreitete. Er riss sich mit einer gewaltigen Anstrengung von dieser Phantasie los und ließ die Bilder aufleben, die ihm das Ergebnis seiner Trinksucht präsentierten. Das Delirium, in dem ihn sein Sohn gefunden und drei Stunden neben ihm am Boden geweint hatte, bis sein Vater gekommen war und den Rettungsdienst alarmiert hatte. Paul hatte geschrien und die ganze Zeit geweint. Aber Martin hatte nicht reagiert, weil er vollkommen weggetreten war.
Sein Blick fiel wieder auf die verführerische Minibar. Er wusste, es würde nicht bei einem Schluck bleiben. Er rief sich ins Gedächtnis, dass er für Paul darauf verzichten musste, je wieder einen Tropfen anzurühren. Der Junge hatte schon genug durchgemacht. Paul würde sein ganzes Leben von seiner Hilfe abhängig sein. Er sollte nicht auch noch einen Alkoholiker zum Vater haben.
Er raufte sich die Haare, ging zurück an das Notebook und drückte auf Antworten.
»Wer bist Du?«, schrieb er und drückte den Button für Nachricht absenden.
Nach kurzer Überlegung beschloss er, eine weitere E-Mail zu schreiben. Er kopierte dafür den Quelltext der E-Mail und fügte den Text in eine Mail an Ram ein.
Ram war ein Freak, der so gut wie nie aus dem Haus ging, sich fast ausschließlich von Pizza ernährte und doch spindeldünn war. Obwohl Martin ihn auf Ende zwanzig schätzte, wohnte er noch bei seinen Eltern, die sich damit abgefunden hatten, dass ihr Sohn anders tickte, als andere Kinder. Ram hatte nicht den geringsten Antrieb
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