Monströse Welten 1: Gras
gesehen und sie im ersten Moment für Lisian gehalten. Sie hatte die gleiche weiße Haut, das gleiche goldene Haar und die gleichen Gesichtskonturen. Nur der Geruch stimmte nicht. Es war nicht Lisian, sondern seine Mutter. »Steh auf, Junge«, sagte sie. »Du machst heute einen Ausflug.« Sie hatte es ganz nüchtern gesagt, auch nicht geweint. Als ob es ihr völlig egal gewesen wäre.
Sie hatten zehn Jahre gesagt. Die nächsten zehn Jahre seines Lebens war er bei Heiligkeit zwangsverpflichtet, ohne daß man ihm auch nur ein Wort gesagt hätte. Erst an jenem Tag. Wollten nicht, daß wir uns Sorgen machen. Wollten nicht, daß wir ständig daran denken. Wollten Dad nicht aufregen.
Und er hatte nicht einmal die Gelegenheit gehabt, sich von Lisian zu verabschieden. Lisian mit ihren weichen… ahhh.
Die Erinnerungen verdichteten sich zur Realität, und die Erregung steigerte sich zu einem unkontrollierbaren Krampf. Der Gleiter schmierte ab. »Ey, guckt mal, Highbones holt sich einen runter. Du Wichser, Highbones. Mach’s noch mal, wir wollen was sehen.«
Knurrend schlug er Little Bridge vom Sitz. Er kämpfte gegen die Tränen an. »Haltet’s Maul! Ich habe mir keinen runtergeholt. Ich habe… ich habe nur daran gedacht, was der alte Fuasoi uns über Frauen erzählt hat.«
Sie schwiegen. Highbones hatte gesagt, er hätte früher ein Mädchen gehabt, aber Einzelheiten verriet er nicht. Steeplehands hatte angeblich auch Frauen gehabt. Sonst noch keiner. Die beiden Bridges waren noch sehr jung gewesen, als sie zu Heiligkeit kamen, zehn oder elf. Und Ropeknots stand auf Jungen. Nun, verdammt, sie alle standen auf Jungen. Schließlich hatten sie keine Frauen zur Verfügung.
»Erzähl uns etwas von Frauen«, verlangte Long Bridge. »Mach schon, Bones. Erzähl uns von deiner Freundin.«
»Steep soll dir von seiner Freundin erzählen«, knurrte er und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Gesicht. »Ich bin beschäftigt.« Sie standen bereits über Darenfelds Hain, und die Fährte hatte er auch schon ausgemacht. Sie war aber nicht leicht zu verfolgen. Weil sie zum Teil im Schatten lag, wurde sogar die Luftaufklärung erschwert. Die sichtbaren Abschnitte verliefen über grasbewachsene Hügel und durch Baumgruppen; generell führte die Spur nach Westen. Weit vor ihnen, am Horizont, zog der Sumpfwald sich als dunkler Saum in Nord-Süd-Richtung.
Hinter ihm beschrieb Steeplehands Frauen bis ins kleinste Detail und dozierte über Körperöffnungen und die entsprechenden ›Schmierstoffe‹. Highbones versuchte, nicht hinzuhören. Das war es nicht. Steep brachte es nicht auf den Punkt. Da war noch etwas anderes an Frauen. Er wußte nicht mehr, was es war, aber er versuchte sich zu erinnern.
Unterdessen kam der Sumpfwald immer näher. Bei seinen Bemühungen, sich zu erinnern, tauchten alte Bilder und halbvergessene Namen in Highbones Bewußtsein auf. Da war etwas. Fast hätte er es gehabt!
Die Triebwerke stotterten. Highbones runzelte die Stirn und tauchte mit einem Anflug von Panik wieder in die Realität ein. Er überflog die Instrumente. Der Gleiter war vor dem Abflug noch bei der Inspektion gewesen. Dieses Monster Shoethai hatte sich darum gekümmert. Fuasoi auch.
Die Triebwerke stotterten erneut und heulten auf. »Haltet euch fest«, rief Highbones. »Wir haben einen Triebwerksausfall.«
Er ging in einen steilen Sinkflug, wobei er die Maschine fast überzog, aber er wollte auf Bodenhöhe sein, in der Nähe der Spur, wenn die Triebwerke ganz versagten. Sie sackten um hundert Fuß ab, und Long jaulte auf. »Ich hab mir in die Zunge gebissen…«
»Es wird noch schlimmer kommen, wenn du dich nicht festhältst.«
Der Gleiter geriet ins Trudeln; Bones stabilisierte ihn wieder und leitete einen Gleitflug ein, wobei die Maschine durch das Gras pflügte. Sie kam zum Stillstand, und die Crew wurde gegen die Kabinentür geschleudert; sie gab nach, und die Jungen flogen ins Freie.
»O Gott«, wimmerte Steep. »O Gott.«
»Halt’s Maul!« schrie Highbones. »Oder willst du uns die Hippae auf den Hals hetzen?« Er stand auf und überzeugte sich davon, daß er unverletzt war. Er hatte sich nichts gebrochen, und er blutete auch nicht.
Bis auf eine Schürfwunde am Kinn war er unversehrt. »Rope, ist bei dir alles klar? Long? Little?«
»Ich glaub schon.«
»Das abgefuckte Ding hat mich voll an der Nase getroffen…«
»Ich glaub, ich hab mir was gebrochen.«
Highbones verpaßte ihm eine Ohrfeige. »Gar nichts ist
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