Monströse Welten 1: Gras
wollte jetzt nicht über ihre Tochter sprechen, noch nicht. Das Papier knisterte in seiner Hand. Plötzlich erinnerte er sich. »Das mußt du dir anschauen. Der Vorsteher der Abtei ist hergekommen und hat sich bei mir nach der Pest erkundigt. Dabei ist ihm das hier aus der Tasche gefallen.« Er gab ihr den Zettel.
Sie las den Text zweimal durch. Schließlich sah sie ihn an. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. »Heiligkeit wird das Gegenmittel nicht ausgeben, selbst wenn wir eins finden?«
»So steht es geschrieben. Der Text ist vom neuen Hierarchen unterzeichnet worden. Onkel Carlos mag vielleicht ein Apostat gewesen sein, aber dazu wäre er nicht fähig gewesen!«
»Was werden wir nun tun?«
»Bisher wünsche ich mir nur, ich hätte dem Kerl nichts gesagt. Im Moment weiß ich keinen Rat.«
Sie berührte ihn sanft an der Schulter. »Eins nach dem andern, Rigo. Mehr kann niemand tun.«
»Na gut. Eins nach dem andern. Im Augenblick geht die größte Gefahr von den Hippae beim Tunnel aus. Vielleicht bleibt uns nichts anderes übrig, als diese verdammten Hippae alle zu töten…«
»Nein!« Sie faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Jackentasche. »Nein! Wir dürfen sie nicht töten. Sie verwandeln sich in andere Wesen. Wichtige Wesen. In Füchse, Rigo. Sie sind eine intelligente Rasse. Selbst die Hippae sind in gewisser Weise intelligent.«
»Ein paar werden wir aber töten müssen«, sagte er. Ihm fiel auf, daß Marjorie einen veränderten Eindruck machte. »Egal, in was sie sich verwandeln. Wenn wir sie nicht töten, töten sie uns. Wir müssen Commons gegen sie absichern, oder sie werden alle Einwohner umbringen, wie damals die Arbai.«
»Gut, dann tötet ein paar von ihnen«, willigte sie ein. »Das wird sich wohl nicht vermeiden lassen. Aber nicht mehr als unbedingt nötig. Aus diesem Grund wollte ich mit dir sprechen. Ich habe von deinem Plan mit dem Ablenkungsmanöver gehört. Wir müssen die Pferde nehmen.«
Zuerst war ihm zum Lachen zumute gewesen. Als er dann hörte, was sie zu sagen hatte, hätte er am liebsten geweint. Er war zwar nicht damit einverstanden, aber sie schaute ihn nur entschlossen an. So hatte er sie noch nie erlebt. Er hatte auch keinen besseren Vorschlag zu machen. Seine Stimmung war von Spott in Verzweiflung umgeschlagen. Mit unsicherem Gang verließ er das Hafenhotel, um die Vorbereitungen zu treffen, von deren Notwendigkeit sie ihn überzeugt hatte. Mit einem Gleiter konnte man den mitten im Wald gelegenen Tunnelausgang nicht erreichen. Beim geringsten Anzeichen eines Luftangriffs müßten die Hippae sich bloß in den Sumpf oder den Tunnel zurückziehen, wie sie sich auch vor dem Gleiter in Sicherheit gebracht hatten, der den verletzten Rigo ausgeflogen hatte. Wenn der Tunnel wirklich zerstört werden sollte, mußten die Hippae abgelenkt werden. Die Hippae haßten Pferde. Die Pferde waren der Schlüssel.
›Wenigstens …‹, sagte er sich und versuchte zu lachen, ›wenigstens muß ich nie mehr diese verdammten bon- Stiefel und die Hosen tragen, die so einen fetten Hintern machen.‹
Nach Einbruch der Dämmerung versammelten sie sich in der großen Scheune, in der die Pferde untergebracht waren. Es wurde nur wenig gesprochen. Alles Notwendige war bereits gesagt worden, und überhaupt hatten sie nun genug geredet. Sie waren der Worte überdrüssig und fürchteten sich vor dem bevorstehenden Einsatz. Ihre Entschlossenheit war jedoch ungebrochen.
Rigo, blaß, aber entschlossen, sattelte El Dia Octavo. Marjorie wählte Don Quixote. Tony nahm Blue Star und Sylvan ritt Her Majesty. Irish Lass, so hatten sie befunden, war leider nicht schnell genug. Blieb also nur noch Millefiori.
»Ich wünschte, wir hätten noch jemanden dabei«, sagte Sylvan und blickte auf die Stute.
»Haben wir auch«, erwiderte Marjorie. Sie war die Ruhe in Person. Vater Sandoval hatte vorgeschlagen, ihr die Beichte abzunehmen und Absolution zu erteilen. Sie hatte mit der Begründung abgelehnt, dafür sei jetzt keine Zeit. Zumal sie sich nicht sicher war, ob sie die Beichte ablegen wollte. Überhaupt waren ihr Zweifel am Sinn dieser Übung gekommen. Selbst wenn es doch einen Sinn haben sollte, war sie im Moment nicht willens oder in der Lage, zu beichten; zuerst mußte sie eine Entscheidung treffen. »Tony, hier ist sie.«
»Wer denn?« fragte er überrascht.
»Ich«, ertönte eine Stimme an der Tür. Sie stand im Lichtkegel, der von draußen hereinfiel. Sie war leichenblaß.
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