Monströse Welten 1: Gras
erzählte sie ihnen, was sie gemacht hatte und wo sie überall gewesen war. »Das Laub verfärbt sich«, sagte sie. »Ist dir das schon aufgefallen, Rillibee? Herzensbrecher-Gold. Mein Gott, wie ist das schön.« Dann besprachen sie, was es am nächsten Tag zum Abendessen geben würde. Sie sagte Joshua, was er einkaufen sollte und in welchen Mengen. Sie sagte Songbird, wie sie das Essen zubereiten mußte und wies Rillibee an, ihr zu helfen. Sie unterhielten sich noch für eine Weile und spielten vielleicht etwas. Schließlich wurde noch einmal der Verband gewechselt, und dann ging sie nach unten.
Dann kam der schlimme Abend, als der Verband gewechselt wurde und Fleischbrocken sich von ihrem Arm lösten. Mom stieß einen Laut aus, als ob sie sich übergeben oder schreien wollte, aber sie bekam nicht genug Luft.
»Hinaus«, sagte Joshua zu den Kindern und wies auf die Tür, wobei sein Gesicht zu einer schrecklichen Fratze verzerrt war, wie eine Kürbis-Laterne; er hatte den Mund aufgerissen und bleckte die Zähne.
Sie liefen in die Küche. Song weinte und knirschte mit den Zähnen, und Rillibee redete sich ein, das sei nur ein Traum, ein böser Traum und daß es überhaupt nicht wahr sei. Er hatte die Knochen in Moms Hand gesehen, wo die beiden Finger sich abgelöst hatten, zwei weiße, runde, glitschige Dinger. Die Wunde blutete nicht, sondern sonderte nur ein Sekret ab, eine gräuliche Flüssigkeit, die aus der Wunde sickerte und die sauberen Bandagen benetzte. Einen solchen Gestank hätte er nie für möglich gehalten. Er hatte einen penetranten Geschmack im Mund.
Danach ließ Dad sie nicht mehr in den Raum, wenn er den Verband wechselte. Bald darauf durften sie überhaupt nicht mehr zu ihrer Mutter ins Zimmer. Aber sie hörten ihre Stimme. Für eine Weile war es auch noch die Stimme von Mom. Einmal hörten sie sie sogar lachen, ein schrilles Lachen der Verzweiflung. Und dann gab es keine Stimme mehr, nur noch dieses Winseln, wie von einem Hund, der von einem Auto angefahren wurde oder wie von einem Kaninchen, das von einem Habicht geschlagen wurde.
Und der Gestank. Jede Nacht stieg er vom Keller zu ihm empor. Ein fürchterlicher Gestank. Schlimmer als auf jeder Toilette.
›O nein‹, sagte der Papagei. ›O Gott. Nein.‹
Dad tauschte mit Rillibee das Zimmer. Die Tage vergingen, ohne daß Rillibee seine Mutter noch einmal gesehen hätte. Nachts lag er in Dads Bett und versuchte sich daran zu erinnern, wie sie ausgesehen hatte. Es gelang ihm nicht. Er wollte sich ihr Bild ansehen, das über dem Kamin hing.
Im Wohnzimmer schaltete er eine Lampe an und betrachtete das Bild. Sie lächelte ihn an, mit in die Stirn fallendem, glänzenden Haar und vollen Lippen.
›Laßt mich sterben‹, flüsterte der Papagei. ›Bitte, bitte, laßt mich sterben.‹
»Sei still!« schrie Rillibee ihn lautlos an, wobei er die Worte wie Erbrochenes herauswürgte. »Sei still! Sei still!«
Er schwor sich, diesen Raum nicht mehr zu betreten. Er wollte diesen Vogel nicht mehr hören. Er aß in der Küche. Er machte seine Schulaufgaben. Er stellte keine Fragen. Er erkundigte sich nicht nach Mom.
»Das muß hart gewesen sein«, sagte Bruder Mainoa. »Oh, muß das hart gewesen sein.«
»Ich mußte immerzu an sie denken. Ihr Gesicht erschien vor meinem geistigen Auge, und dann wurde es an den Seiten grau und kräuselte sich wie ein verbrennendes Bild, und ich erkannte sie nicht mehr und erinnerte mich auch nicht mehr daran, wie sie ausgesehen hatte. Irgendwann hielt ich es dann nicht mehr aus und ging wieder ins Wohnzimmer, um mir ihr Bild anzusehen.«
›Töte mich‹, sagte der Papagei. ›Bitte, töte mich.‹
Es war am darauffolgenden Tag, an seinem zwölften Geburtstag, als Rillibee aufwachte und erkannte, daß alles nur ein Traum gewesen war. Die Sonne schien hell durch das Fenster, Herzensbrecher-Gold. Er stand auf, zog sich an und eilte ins Wohnzimmer. Der Papagei schritt auf der Stange auf und ab und sagte: ›Gott sei Dank. Gott sei Dank. Gott sei Dank.‹
Song saß bereits am Tisch. An seinem Platz lag ein in Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen. Grinsend setzte er sich, wendete es nach allen Seiten und schüttelte es, um auf den Inhalt zu schließen.
»Herzlichen Glückwunsch, Rillibee«, sagte Dad von der Küchentür aus. »Ich mache Pfannkuchen.« Die Stimme klang seltsam, aber die Worte ergaben einen Sinn.
»Herzlichen Glückwunsch, Rillibee«, sagte Song mechanisch.
Dad kam mit einem Krug Saft ins
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