Monströse Welten 2: Hobbs Land
Wahrheit«, sagte die Köchin. »Die Propheten wissen es auch.«
Die Person, die Maires frühere Adresse kannte, war der Inhaber eines Musikladens in der Innenstadt von Scaery. Er erinnerte sich noch an Maire Manone und schickte Sam zu einer Farm am Stadtrand; die Gegend war mittlerweile bebaut, doch das Manone-Haus war von einer örtlichen Behörde unter Denkmalschutz gestellt worden. Der Ladenbesitzer gab Sam eine Wegbeschreibung. Zugleich empfahl er ihm, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen; die Endstation läge quasi vor der Haustür. Sam befolgte den Rat und lauschte der Unterhaltung der Fahrgäste. Die Gespräche drehten sich zum größten Teil um die nächtlichen Tiere; Angst hatten die Leute indes nicht. Ein paar erwähnten, daß die Propheten versucht hätten, sich als Exorzisten zu betätigen.
Schließlich stand er vor dem Haus. Es war verlassen. An der Tür war ein Schild befestigt, welches das Gebäude als Geburtshaus der Lieblichen Sängerin von Scaery auswies. Eine Frau kam aus einem Nachbarhaus und sagte, wenn er das Haus besichtigen wolle, müsse er ins Hinterhaus gehen; die Gharm, die es bewohnte, hätte einen Schlüssel.
Sam tat wie geheißen. Die Gharm war alt. Älter, als Stenta Thilion ausgesehen hatte.
»Darf ich das Haus besichtigen?« fragte er.
Wortlos schloß sie die Tür auf und führte ihn hinein. In der kleinen Halle stand ein Tisch mit einem Stapel Liederhefte. Ein Schild besagte, daß sie zu verkaufen seien. An der Wand hing ein Bild, das Maire als junges Mädchen zeigte, mit goldenem Haar, schlanker Figur und großen Augen. Sam stand lange vor dem Bild und versuchte, sich Maire als Kind vorzustellen. Es gelang ihm nicht. Dann betrat er den Raum zu seiner Rechten, das Wohnzimmer, dessen Parkettfußboden mit einer dünnen Staubschicht überzogen war. Plötzlich zog etwas ihn in seinen Bann. Auf einmal sah er die dunklen Punkte, von denen Maire gesprochen hatte, die Spritzer unter dem Staub, und ihre Worte schossen ihm durch den Kopf, als ob er sie sich tagtäglich vorgesagt hätte, Worte, die er damals kaum bewußt wahrgenommen hatte.
»Das ist Fess’ Blut«, sagte er atemlos, wobei er nur am Rande bemerkte, daß die alte Gharm interessiert die Ohren spitzte. »Meine Mutter hat ihr Leben lang um sie getrauert.«
»Wie heißt Ihre Mutter?« flüsterte die Gharm.
»Maire Manone«, sagte er. »Ich hielt ihre Trauer damals für übertrieben. Ich dachte, so schlimm wäre es wohl schon nicht gewesen.«
»Doch«, erwiderte die Gharm weinend. »Es war so schlimm, daß Worte nicht genügten, es zu beschreiben. Ich bin Lilla.«
Sam schüttelte den Kopf. »Ich dachte, Sie wären geflohen. Mam sagte mir nämlich, Sie wären geflohen.«
»Das stimmt auch, aber wir sind nur bis nach Wander gegangen. Ich habe dort viele Jahre für die Familie des Squire gearbeitet. Als vor einigen Tagen die Dinge in Voorstod in Bewegung gerieten, bin ich zurückgekehrt. Ich werde bald sterben. Ich wollte noch einmal den Ort sehen, an dem mein Kind lebte und starb. Hinter dem Haus ist sie begraben, unter dem Baum. Erst hatte ich große Angst, doch vor zwei Tagen kam der Grüne-Schlange-Tchenka und segnete Fess’ Grab.«
»Zum Teil ist es auch Maires Verdienst, daß die Tchenka zurückgekehrt sind«, legte Sam ein gutes Wort für Maire ein. »Bitte begraben Sie Ihren Haß.«
»Ich habe sie nie gehaßt«, entgegnete Lilla. »Ich habe sie geliebt wie mein eigenes Kind. Wir Gharm-Kindermädchen empfinden oft Liebe für die Kinder, die wir aufziehen, vor allem für die Mädchen. Denn die werden nicht von den Propheten verdorben.«
»Stimmt das? Werden die Jungen wirklich verdorben?«
»Wir Gharm haben ein Sprichwort: Ein Mann, der behauptet, im Besitz der Wahrheit zu sein, trägt einen leeren Sack.«
»Kennen Sie Phaed Girat?«
»Ich habe von ihm gehört. Bevor wir geflohen sind.«
»Er ist mein Vater.«
»Ich halte ihn für einen bösen Mann.«
»Wissen Sie denn so genau, daß er böse ist, Lilla?« fragte Sam pikiert. »Vielleicht würde er sich ändern, wenn er an einen anderen Ort ginge.«
»Wir Gharm haben noch ein Sprichwort: Vielleicht wachsen dem Frosch Federn, wenn er sich vom Teich entfernt. Wenn Sie Maire wiedersehen, sagen Sie ihr, daß ich sie liebe.«
Er erzählte ihr, unter welchen Umständen er sich von Maire getrennt hatte, und Lilla versprach, sich unter den Gharm umzuhören. »Vielleicht weiß jemand etwas«, sagte sie. »Wir werden sie finden.«
»Vielleicht ist sie schon
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