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Monströse Welten 3: Toleranz

Monströse Welten 3: Toleranz

Titel: Monströse Welten 3: Toleranz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sheri S. Tepper
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musterten, die Augen, die Blickkontakt mit ihr herstellten und verlangten, daß ihrem Wunsch entsprochen wurde. Und wenn sie dann nickte und auf die unausgesprochene Frage einging, nickte auch der Zuschauer, als ob er sich sagen würde, sie ist ja wie ich, er ist wie ich. Egal, wie sie aussehen, sie sind wie ich. Es war Neugier, die sie anlockte, doch beim Abschied siegte die Menschlichkeit.
    »Wenn sie nur etwas anderes sehen wollten«, sagte Nela zu Bertran, »würden sie zu einem Aquarium gehen. Oder sich in einem Museum die Fossilien anschauen. Dort würden sie jede Menge fremdartiger Lebewesen zu sehen bekommen, aber sie gehen nicht dorthin, sondern hierher, wo das Fremde von Menschen verkörpert wird. Daß wir anders sind, interessiert sie eigentlich gar nicht, sondern daß wir Menschen sind, egal wie wir aussehen. Es ist unsere Identität, derer sie sich vergewissern wollen. Aber ich frage mich, wieso sie das wissen wollen?«
    Nela glaubte, daß es einen Grund geben müsse, der über die bloße Neugierde hinausging. Einen, wie sie manchmal glaubte, tieferen Sinn.
    Bertran stimmte ihr zu, daß es die Menschlichkeit hinter den Kuriositäten war, die das Publikum sehen wollte. Obwohl die meisten Leute die Vorstellung plaudernd und erleichtert verließen, sagte er, seien manche doch merkwürdig still, als ob die Menschlichkeit hinter dem Ausrufer nicht genug gewesen wäre. »Sie suchen nach etwas, das sie nicht finden«, sagte er, wobei er sich fragte, wonach sie wohl suchten. Etwas Bedeutenderes oder Tiefgründigeres. Eine Definition von Humanität vielleicht, eine Definition, nach der man in der Nebenattraktion suchen mußte, weil man die Antwort unter normalen Menschen nie finden würde.
    »Schildkrötentaube glaubt, daß die Leute nach einem Orakel suchen«, sagte Nela. Sie legte Schildkrötentaube oft Dinge in den Mund, die auf ihrem eigenen Mist gewachsen waren und die sie aus irgendeinem Grund nicht als eigene Meinung vertreten wollte. »Die Leute wollen einen Seher.« Obwohl sie sich dessen nicht sicher war, hielt sie es für plausibel. Die Leute wollten jemanden, der ihnen Schlüsselworte einflüsterte, die Offenbarung, deren sie bedurften: Hilfe, Vergänglichkeit, Mitleid, Vergebung, Hoffnung – das Geheimnis der Existenz. Nach all diesen Dingen suchten sie in der Nebenattraktion, weil sie sie nirgendwo sonst gefunden hatten.
    Dem Publikum wurde indes nichts davon zuteil. Weder Hilfe noch Hoffnung. Alles, was sie bekamen, war ein Moment des Staunens, ein komplizenhaftes Augenzwinkern zuzüglich magischer Ringe, verschwindender Tücher und Wortspiele. »Mehr können wir ihnen nicht geben, Nelly«, sagte Bertran und glaubte damit die Wahrheit gesagt zu haben.
    Es begab sich auf der dritten Europatournee, zehn Jahre, nachdem die Zwillinge sich dem Zirkus angeschlossen hatten (Schildkrötentaube, so sagten sie, hätte soeben einen internationalen Violinwettbewerb gewonnen und sich in ein Mädchen namens Sylvia Syllabub verliebt, das Fagott spielte), als Bertran und Nela dem Außerirdischen begegneten. Der Zirkus gastierte gerade in Rakovnik in der Tschechei, in einem Gebäude, das für ganzjährige Zirkusvorstellungen konzipiert worden war. Bertran und Nela hatten die Nebenattraktion nach der letzten Vorstellung verlassen. Die übrigen Artisten hatten sich den Performance-Künstlern und dem sonstigen Personal angeschlossen und diskutierten Gehaltsprobleme, die mit dem Wechselkurs zusammenhingen. Bertran sagte, er und Nela hätten das schon hinreichend erörtert, und sie würden nun zu ihrem Wohnwagen gehen. Nela fügte sich wie immer Bertrans Worten. Sie trugen noch immer ihre Kostüme: die hübsche Nela ein mit Pailletten und Rüschen besetztes Kleid, und der stattliche Bertran einen Frack und ein gestärktes Hemd.
    Beide waren guter Dinge; ihre Stimmung stieg wieder nach einer dieser mehrtägigen, periodisch wiederkehrenden Depressionen, die sie schon lange als solche identifizierten, eine Depression, die die Ärzte dem Wetter, der Arbeit oder auch Nelas Eierstöcken oder sonstigen zyklischen Phänomenen zuschrieben. Nela selbst bezeichnete diese Symptome als NMS, non-menstruelles Syndrom, und sowohl sie als auch Bertran hatten gelernt, es in Anbetracht der Euphorie, die sich danach oft einstellte, mit stoischer Gelassenheit zu ertragen (wobei sie die Selbstmordabsichten auf später verschoben). Bertran las einen Zettel, den man Nela während der Vorstellung zugesteckt hatte, und in Anbetracht des

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