Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
gegangen.
Zehn Tage, in denen sie tausend Gedanken und Erinnerungen gewälzt hatte, die ruckelnd wie die beschleunigten Bilder eines Stummfilms an ihr vorbeizogen.
Zehn Tage im Schlafanzug, in denen sie sich von Salzmandeln, trockenen Aprikosen und Bitterorangenmarmelade ernährt hatte, eine Teekanne oder eine Flasche Whisky immer in Reichweite.
Den Whisky trank sie abends. Ab neunzehn Uhr. Nicht früher. Sie wollte vor sich selbst nicht als Säuferin dastehen. Er war ihre Belohnung. Sie trank ihn auf Eis. Ließ die Eiswürfel in dem geschliffenen Glas klirren. Sie erinnerten sie daran, dass sie noch lebendig war, tatsächlich lebendig, und dass sie mit all den Erinnerungen würde leben müssen, die sie eine nach der anderen aus ihrem Gedächtnis herausgelöst hatte.
Denn bei Erinnerungen hat man die Wahl. Entweder man ignoriert sie und beginnt jeden Tag, als wäre er etwas vollkommen Neues, oder aber man holt sie nacheinander hervor, sieht ihnen ins Gesicht und identifiziert sie … Man wühlt sich durch das Dunkel, um das Licht zu finden.
Sie bewegte das Glas und lauschte dem Klang der Eiswürfel. Immer brach alles unvermittelt über sie herein, sangen sie, Freude, Kummer, belanglose Lappalien. Sie radelte gemütlich durch die Stadt, dann unversehens ein Ruck …
Ihr Sohn ging weg …
Sie lernte einen Mann kennen.
Einen Mann, der die Tür zur Vergangenheit öffnete.
Die Eiswürfel im Glas waren verstummt. Sie stand auf, ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank. Sie brauchte den Klang der Eiswürfel, um die Klage der Vergangenheit zu hören. Sie kehrte zurück in den Sessel, schlug ein Pyjamabein über das andere und ließ es baumeln. Die Eiswürfel wechselten die Oktave, sie klangen unbeschwerter.
Ihr Vater kehrte zurück …
Die roten Flure von Buckingham Palace. Die Teppiche, über die man lautlos schritt, die Worte, die man flüsterte, niemals die Stimme erheben, laut zu reden ist ja so vulgär! Über seine Herzensqualen zu sprechen ist ja so vulgär … Never explain, never complain .
Und ihr Zorn angesichts der verschlossenen Tür und des gebeugten Rückens.
Sie blieb noch einen Tag im Schlafanzug und noch einen. Sie wollte verstehen. Sie musste verstehen.
Sie ließ ihre langen Beine baumeln. Wechselte den Platz. Setzte sich in den großen Ledersessel beim Fenster. Sah zu, wie die Schatten der Autos und der Bäume über die Zimmerdecke tanzten.
Es dämmerte …
Sie nahm die Whiskyflasche, schenkte sich noch ein Glas ein, stand auf, aß eine trockene Aprikose, eine Mandel. Stellte die nackten Füße ganz flach auf den Boden, spürte die Astlöcher im Holz und drückte den Fuß noch fester gegen das Parkett.
Den Zorn besänftigen … Sie kannte ihren Zorn jetzt. Konnte ihn beschreiben. Mit Erinnerungen. Farben. Konnte ihm ins Gesicht sehen und ihn zurück in die Vergangenheit schicken.
Die Tage vergingen. An manchen Morgen regnete es, und sie kniff die Augen zusammen, um sicherzugehen. An anderen Morgen schien die Sonne, dicke Strahlen fielen auf ihr Bett und kitzelten ihre Beine. Sie sagte, Hello, sunshine! , und streckte einen Arm, ein Bein aus. Machte sich einen Tee, einen Zwieback mit Bitterorangenmarmelade, ging zurück ins Bett, stellte das Tablett auf ihren Schoß und redete mit dem Zwieback. Hätte der Lord Chamberlain etwas anders machen können? Was hätte er denn anders machen können? Er war ein hilfloser, schwacher Mann, er hatte geschrieben: »Wie soll ich dir etwas erklären, was ich selbst nicht verstehe?«
Muss man denn alles erklären und alles verstehen, um zu lieben?
Sie folgte dem Lauf der Sonne vor den beiden hohen Fenstern. Ich muss lernen, mit diesem Zorn zu leben, sagte sie sich. Ich brauche ihn nur noch zu zähmen, muss ihm den Marsch blasen, wenn er sich zu weit vorwagt …
Die Whiskystunde rückte näher, sie stand auf, löste die Eiswürfel aus ihrer Schale, gab sie ins Glas, ließ sie leise klirren, lauschte ihrem Lied, lauschte dem Regen, wippte mit einem Fuß, dann mit dem anderen.
Am zehnten Tag senkte sich, zart wie der Regen, Frieden auf sie herab.
Scheint, als hätte sich die schwere See beruhigt, dachte sie verwundert und ließ sich ein großes Bad ein. Sie wusste nicht genau, was sie begriffen, was sie gelernt hatte. Sie wusste nur, dass heute der erste Tag ihres neuen Lebens war. Sie würde die Rechnung für die Vergangenheit übernehmen und bezahlen.
Sie lächelte, als sie einen Flakon Badesalz ins Wasser leerte, es war alles noch ein bisschen
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