Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
Vielleicht hätte ich nicht so gierig sein und ihm etwas mehr lassen sollen, sagte sie sich, während sie ihre langen, knochigen Füße in die verblichenen Pantoffel schob.
Sie schlurfte in die Küche, schaltete das Gas ein und stellte Milch auf den Herd, um damit ihren löslichen Kaffee zuzubereiten, schnitt ein halbes Baguette auf und bestrich die Hälften mit Margarine und Marmelade aus einem der Döschen, die sie von den Wagen auf Hotelfluren stahl. Das war ihre neue Strategie: Sie schlich sich heimlich in Luxushotels, zu der Zeit, in der die Zimmer gereinigt wurden – wenn die Zimmermädchen die Türen weit offen stehen ließen, um ungehindert kommen und gehen zu können –, ging hinauf in die oberen Stockwerke, strich wie ein Schatten an den Wänden entlang und füllte ihre große Tasche mit den verschiedensten Dingen, von parfümierter Seife bis hin zu kleinen Honig- und Marmeladedöschen. Manchmal stibitzte sie auch übrig gebliebene Gänseleberpastete, halb aufgegessene Lammkoteletts, goldbraun gebackene Brötchen und Flaschen mit einem Rest Wein oder Champagner darin von den Tabletts, die vor den Zimmertüren auf dem Boden standen. Sie liebte diese verstohlenen Beutezüge, die ihr die Illusion vermittelten, ein gefährliches Leben zu führen, indem sie ein bisschen Luxus zusammenklaubte.
Mit glasigen Augen betrachtete sie den Milchtopf, und über ihr eingefallenes Gesicht legte sich ein nachdenklicher Schleier, der ihre Züge sanfter erscheinen ließ. Diese Frau musste früher einmal schön gewesen sein. Immer noch umgab sie ein Rest von Eleganz und Weiblichkeit, und es war eine berechtigte Frage, welches Übel sie innerlich zerfressen hatte, dass sie so hart und bitter geworden war. War es Geiz, Hochmut, Gier oder die schlichte Eitelkeit einer Frau gewesen, die sich auf dem Gipfel angekommen wähnt und darauf verzichtet, ihre Persönlichkeit mit bunten Bändern und Seelenregungen zu schmücken? Wozu sein Herz und Gesicht schminken, wenn man sich unangreifbar und allmächtig glaubt? Im Gegenteil! Man befiehlt, man verzieht missmutig das Gesicht, man wettert, man entscheidet, man demütigt, man verscheucht den aufdringlichen Zeitgenossen mit einem Wink. Man fürchtet niemanden, denn die Zukunft ist gesichert.
Bis zu dem Tag, an dem …
Die Karten neu gemischt werden und die kleine, gedemütigte Sekretärin die vier Asse ihrer Chefin in die Hand bekommt.
Nachdem Henriette an diesem Morgen ihr halbes Baguette gegessen hatte, beschloss sie, in eine Kirche zu gehen, um sich dort in der Stille zu besinnen und Bilanz zu ziehen. Die Welt mochte auf ihren Untergang zusteuern, sei’s drum, sie hatte nicht vor, ihr zu folgen. Sie musste darüber nachdenken, wie sie sich am besten vor dem allgemeinen Konkurs schützen konnte.
Sie machte eine Katzenwäsche, kleisterte weißen Puder auf ihre langen, hageren Züge, bedeckte ihre schmalen Lippen mit einer dicken Schicht rotem Lippenstift, setzte einen großen Hut auf ihren mageren Haarknoten, steckte eine Nadel hindurch, damit er hielt, verzog das Gesicht, als sie sich im Spiegel betrachtete, sagte mehrmals, alt zu werden ist keine gute Sache, meine Liebe!, suchte ihre Ziegenlederhandschuhe, fand sie, verließ die Wohnung und schloss die Tür hinter sich ab.
Sie musste nachdenken. Sich etwas einfallen lassen. Listen ersinnen. Abwägen.
Und dazu gab es nichts Besseres als die Stille in der nahen Kirche Saint-Étienne. Sie mochte die andächtige Stimmung in Kirchen. Die nach kaltem Weihrauch duftende Luft der Marienkapelle auf der rechten Seite gleich hinter dem Eingang wirkte wie ein beruhigender Balsam auf ihr Gewissen und half ihr dabei, Böses zu tun und gleichzeitig Gott um Vergebung zu bitten. Sie kniete auf den kalten Steinplatten nieder, senkte den Kopf und murmelte ein Gebet. Danke, Jesus, für dein Erbarmen, danke, dass du verstehst, dass ich leben und überleben muss, segne meine Vorhaben und Pläne und vergib mir das Böse, das ich tun werde, denn es dient einer guten Sache. Meiner Sache.
Sie stand wieder auf und ließ sich auf der geflochtenen Sitzfläche eines Stuhls in der ersten Reihe nieder.
Inmitten der zitternden Flammen der Wachskerzen und in der nur selten von Schritten durchbrochenen Stille richtete sie den Blick auf den blauen Umhang der Jungfrau Maria und plante ihre nächste Racheaktion.
Sie hatte die Scheidungspapiere unterschrieben. Sei’s drum. Marcel Grobz zeigte sich großmütig. Das war eine Tatsache. Sie behielt ihren Namen, die
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