Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
ich so schnell nicht wieder.»
Poppy nickte. «Und du meinst wirklich, da kann etwas draus werden?»
«Da ist schon etwas, das sag ich doch die ganze Zeit! Es kann nur noch größer werden. Wenn du es jetzt richtig anstellst. Also vertrau mir!»
Das tat Poppy nur zu gerne. Audrey druckte ihr eine Liste mit Aufgaben aus, die sie eine nach der anderen abhaken sollte. Als Erstes schrieb sie eine Reihe kurzer Twitterkommentare auf Vorrat. Das fiel ihr erstaunlich leicht. All die Jahre, in denen sie zu schreiben versucht hatte! Nie war es ihr gelungen, mehr als drei zusammenhängende Gedanken zu formulieren. Und jetzt stellte sich heraus, dass das gar nicht nötig war! Hundertvierzig Zeichen genügten.
Poppy hatte eine Schleuse geöffnet. Sie musste die unordentlichen, schamgefüllten, untersten Schubladen ihres Geistes nicht krampfhaft verschließen, um schreiben zu können. Im Gegenteil: Genau hier lag ihr Stoff verborgen, und offenbar auch ihre Fähigkeit, andere Menschen anzusprechen. Plötzlich war Schreiben keine Arbeit mehr, keine Qual. Sie öffnete die Schubladen, und die Sätze krabbelten aus ihnen heraus, die Bilder, die Erinnerungen. «Endlich!», murmelten sie, rieben sich die Augen, streckten und dehnten sich und wuchsen auf dem leeren Bildschirm zu Geschichten heran. Poppys Finger konnten auf der Tastatur kaum mithalten.
«Hier, ich hab dir ein Birchermüesli gebracht!»
Audrey stand vor ihrem Pult. Poppy hatte nicht einmal gemerkt, dass sie das Büro verlassen hatte. «Wie spät ist es?»
«Viertel nach drei.»
Widerwillig klappte Poppy ihren Laptop zu und griff nach der kalten Glasschüssel. Mehr als fünf Stunden waren vergangen, ohne dass Poppy es gemerkt hatte. Und ohne dass sie eine einzige Affenstimme vernommen hatte. Was für ein Witz, dachte sie. Und: Ob das Samadhi war? Das Aufgehen in einer Tätigkeit? Sie würde es nachschlagen. Poppy machte sich mit der rechten Hand eine Notiz, während sie mit der linken den Löffel zum Mund führte.
Audrey grinste. «Sieht nicht so aus, als bräuchtest du meine Hilfe noch!»
Poppy ließ den Löffel sinken. «Audrey», sagte sie, «das mag jetzt komisch klingen, aber ich glaube, ich habe meine Bestimmung gefunden.»
«Gar nicht komisch! Ich weiß genau, was du meinst! So habe ich mich gefühlt, als meine Eltern zum ersten Mal auf einer Party ein Video von mir abspielten, wandfüllend, wie ich You Are My Sunshine sang. Ich war fünf Jahre alt und wusste: Das ist es, was ich will!»
Und was tust du dann hier?, wollte Poppy fragen. Aber was tat sie selber hier?
«Du versprichst mir aber, dass ich dich begleiten darf, gell?»
«Natürlich!» Poppy löffelte das Birchermüesli in sich hinein, ohne etwas zu schmecken. In Gedanken formulierte sie bereits ihren nächsten Eintrag.
«Okay. Ich geh heute ein bisschen früher, ich muss noch auf der Sportredaktion vorbei, die wollen mich für die nächsten zwei Wochen.» Audrey verdrehte die Augen. «Die haben Ideen, das glaubst du nicht. Aus dem letzten Jahrhundert! Fußball aus weiblicher Sicht und so was. Da muss ich dann wieder so tun, als hätte ich von nichts eine Ahnung!» Sie wurde ernst. «Du hast mich nie blöd behandelt, Poppy. Dafür danke ich dir.»
«Warum sollte ich dich blöd behandeln?»
«Na, wegen meines Aussehens! Was glaubst du, was ich aushalten muss? Und nicht nur von Männern, Frauen sind viel schlimmer, und zwar, versteh mich nicht falsch, gerade die Älteren! Die hassen mich geradezu. Du kannst dir nicht vorstellen, wie unwohl ich mich am ersten Tag hier gefühlt habe. Aber du warst immer voll straight mit mir, Poppy.» Audrey seufzte tief. «Weißt du, es gab schon Tage, da bin ich nahe daran, mich selber zu verunstalten. Jahrelang hatte ich so eine schreckliche Fransenfrisur, nur, damit man mein Gesicht nicht sieht. Damit mich die Leute nicht immer nur über meine Schönheit wahrnehmen. Aber irgendwann wurde mir klar, dass das wenig nützt – meine Schönheit hört ja am Hals nicht auf!»
Poppy hätte beinahe laut herausgelacht, doch sie sah, dass Audrey es ganz ernst meinte. Deshalb nickte sie nur. Sie war heute zu glücklich, um kleinlich zu reagieren. Mehr als glücklich: Poppy fühlte sich richtig. Sie war am richtigen Platz, an ihrem Platz. Sie war angekommen.
«Du, etwas noch, bevor ich hier Schluss mache.» Audrey war zu ihrem Arbeitsplatz hinübergegangen und beugte sich im Stehen über ihren Computer. «Gell, ‹Amischlampe› gilt als rassistische
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