Montana 04 - Vipernbrut
einem Paar Stiefel, das jemand willkürlich hier abgestellt hatte. Mehrere Töpfe mit erfrorenen Pflanzen waren neben der abgenutzten Fußmatte abgestellt worden.
Abgesehen von einer Böe, die durch die Bäume strich, war alles ruhig. Pescoli klopfte an die Tür und klingelte. Die Glocke hallte durch ein leeres Haus.
»Mrs. Sutherland?«, rief Pescoli durch die schwere Eichentür. »Brenda?«
Nichts. Hinter ihnen ächzten die schneebeladenen Äste im auffrischenden Wind.
»Vielleicht hat sie die Gelegenheit ergriffen und sich aus dem Staub gemacht, als die Jungs nicht da waren«, überlegte Pescoli laut. »Obwohl das eher unwahrscheinlich ist. Einer ihrer Söhne - Dave heißt er, glaube ich, oder Darren, Don … nein, Drew - ist in Biancas Klasse, oder sie haben zumindest mehrere Kurse zusammen; auf jeden Fall habe ich den Namen schon mal gehört und meine, seine Mom würde sich ziemlich für ihre Kinder aufopfern. Außerdem würde sie als alleinerziehende Mutter wohl kaum ihren Job aufgeben und schon gar nicht den Wagen.«
»Da hast du recht.«
Die beiden Frauen gingen ums Haus herum, überprüften die leere Garage, in der sich jede Menge ausrangierter Krempel häufte. Ein dunkler Fleck auf dem Boden deutete darauf hin, dass Brendas Wagen Flüssigkeit verlor.
Der Garten war leer und lag unter einer dicken Schneedecke. Sie stiegen die Stufen zu der breiten Veranda an der Rückseite des Hauses hinauf, hier hing eine ausziehbare Wäscheleine. Unter dem Vordach entdeckte Pescoli ein leeres Hornissennest.
Sie pochte kräftig gegen die Hintertür, dann drehte sie probehalber den Knauf. Die Tür war unverschlossen.
»Glück gehabt«, sagte sie und drückte sie vorsichtig auf.
Als kein zähnefletschender Hund angestürmt kam, traten sie ein. In der kleinen Küche roch es nach Tomatensoße, der Wasserhahn über der Spüle tropfte. Sie gingen an einer kleinen Essecke mit einem roten Resopaltisch vorbei, der noch aus den sechziger Jahren stammen musste - zwei Milchgläser und eine Schüssel mit Müsli standen darauf-, dann betraten sie das ordentlich aufgeräumte Wohnzimmer. Die Kissen auf den abgenutzten Polstermöbeln waren aufgeschüttelt, ein Flickenteppich lag auf dem zerschrammten Hartholzfußboden. An einer der Wände stand ein Holzofen mit kalter Asche darin. Die beiden Schlafzimmer waren leer, in dem mit den Stockbetten lagen überall Klamotten verstreut, in dem anderen stand ein ordentlich gemachtes Doppelbett. Auf dem Nachttisch lag eine Bibel, ein Flanellnachthemd und ein dazu passender Bademantel hingen an einem Haken an der Rückseite der Tür. In Brenda Sutherlands Kleiderschrank hingen nur wenige, eher praktische Kleidungsstücke; das Badezimmer war klein, völlig überladen und hätte - genau wie das ganze Haus - dringend saniert werden müssen.
Kein Obergeschoss.
Kein Keller.
Keine Brenda Sutherland.
»Sie ist definitiv verschwunden«, stellte Pescoli fest. »Ich denke, wir sollten uns gleich mal mit dem Ex-Mann unterhalten.«
»Ich werde den Eindruck nicht los, dass alles genauso rätselhaft ist wie bei Lissa Parsons.«
»Denk nicht mal dran«, warnte Pescoli, doch Alvarez entnahm dem besorgten Tonfall ihrer Stimme und ihrer tief gefurchten Stirn, dass sie bereits zu demselben Schluss gekommen war: Das Verschwinden der beiden Frauen stand irgendwie in Verbindung.
Der nächste Tag erwischte Alvarez definitiv auf dem falschen Fuß. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte ihr Wecker nicht funktioniert, vielleicht weil sie am Vortag zu heftig auf die Aus-Taste geschlagen hatte, und sie stellte fest, dass sie ihr Kampfsporttraining verpasst hatte. Schnell ließ sie Roscoe in den Garten, dann warf sie einen Blick auf ihr Handy. Ihr Lehrer hatte nicht angerufen, sondern eine SMS geschickt, und sie simste eine Entschuldigung zurück.
Irgendwie fühlte sie sich heute nicht wohl.
Was war nur los mit ihr?
Sie kam niemals zu spät. Versäumte niemals eine Verabredung. Kaufte unzuverlässigen Menschen niemals ihre Ausreden ab. Ja, sie hatte schlecht geschlafen. Mrs. Smith war die halbe Nacht durchs Schlafzimmer gegeistert, und ihre Gedanken waren immer wieder zu den beiden vermissten Frauen gewandert, trotzdem war das kein Grund dafür, dass sie derart neben sich stand. »Reiß dich zusammen«, ermahnte sie sich, doch als sie unter die Dusche trat, spürte sie einen Anflug übler Kopfschmerzen. Sie drehte den Hahn auf. Das kalte Wasser traf wie Nadelspitzen auf ihre nackte Haut. Erschrocken sprang
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