Montana 04 - Vipernbrut
und sie dann der Öffentlichkeit präsentiert. Das Büro des Sheriffs hatte Leute abgestellt, die ihre Verwandten, Mitglieder der Kirchengemeinde, Anwohner, Feinde von Prediger Mullins und seiner Familie oder der Presbyterianischen Kirche genauestens unter die Lupe nahmen, außerdem einheimische Künstler, vor allem die, die mit Eis arbeiteten. Zudem hatten sie in sämtlichen Cateringfirmen und Hotels der Gegend nachgefragt, ob sie jemand beschäftigten, der Eisskulpturen fertigte.
»Geisteskrank«, murmelte sie, legte beide Arme hinter ihren Kopf und streckte sich, dann ließ sie die Schultern kreisen, um ihre Verspannungen zu lockern. Der Tag war anstrengend gewesen. Manche Täter hielten die Leichen ihrer Opfer in der Nähe ihres Wohnorts versteckt, um sie später wieder aufzusuchen und den Akt der Tötung erneut durchleben zu können, wann immer sie wollten. Die anderen, die mindestens genauso gestört waren, wollten mit ihrer Tat vor aller Welt protzen, wollten zeigen, wie clever sie waren; sie liebten es, ihre Spielchen mit der Polizei zu treiben und die Öffentlichkeit zu terrorisieren. Dieser Verrückte, der sein Opfer in Eis gepackt hatte, fiel definitiv in die letztere Kategorie. Das war krank, einfach nur krank, doch daran war sie nach den jüngsten Serienmorden in ihrer beschaulichen Kleinstadt fast schon gewöhnt.
Was ihr dagegen wirklich Sorgen bereitete, war, dass sie die Anwesenheit des Psychopathen gespürt hatte, als sie am Fundort der Leiche bei der Krippe gewesen war, obwohl sie eigentlich nichts auf »Bauchgefühle« oder vage Intuition gab. Trotzdem hatte sie heute früh, noch vor Anbruch der Morgendämmerung, draußen vor der Kirche in der eisigen Kälte, das Gefühl nicht abschütteln können, das Böse starre ihr direkt ins Gesicht. Sie hatte geahnt - wenn nicht gar gewusst -, dass sich der heimtückische Irre, der eine Frau zur Eisskulptur gemacht hatte, ganz in der Nähe befand.
Nein, das war doch lächerlich. Sie vertraute auf die Wissenschaft und setzte stets auf handfeste Beweise. Und dennoch …
Pescoli, dick eingepackt in Mantel und Mütze, tauchte an Alvarez’ Schreibtisch auf. »Ich fahre dann mal nach Hause und sehe nach meinen abtrünnigen Kindern.«
»Kommst du anschließend wieder her?«
»Heute Abend? Vielleicht. Hängt von der Situation daheim ab. Bianca und ich sehen uns kaum noch, und das ist gar nicht gut.«
»Und Jeremy?«
»Der ist fast nie da. Ich versuche, ihm seinen >Freiraum< zu geben«, fügte sie sarkastisch hinzu und malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, »aber ich hab’s langsam satt. Dieser >Freiraum< bedeutet für mich, dass ich meine Nase nicht in seine Angelegenheiten stecke, obwohl er noch zu Hause wohnt und keinerlei Anstalten macht, seinen Beitrag zu leisten. Ich denke, es ist an der Zeit, ein ernstes Wörtchen mit ihm zu reden. Ein paar Veränderungen könnten nicht schaden, immerhin fängt bald ein neues Jahr an.« Sie legte sich ihren Schal um und band die Enden zu einem dicken Knoten. »Kinder«, murmelte sie, dann blickte sie Alvarez scharf an. »Oh, da fällt mir gerade ein, was hältst du eigentlich von unserem Freund, Prediger Mullins?«
»Hmm?«
»Der hat nicht unbedingt eine lilienweiße Weste.« Sie löste den Schalknoten wieder und ließ die Enden lose herabfallen.
»In Arizona hat es Probleme gegeben; man hat ihn im Bett mit einem seiner Gemeindemitglieder erwischt, einem Mädchen, das gerade erst achtzehn geworden war. Ihr Vater hat Zeter und Mordio geschrien, doch weil das Mädchen volljährig war, hat man Mullins lediglich versetzt.«
»Nach Grizzly Falls«, vermutete Alvarez.
»Hmmhmm.« Pescoli fingerte weiter an ihrem Schal und band ihn erneut zu einem dicken Knoten. »Calvin sollte besser nicht mit Steinen werfen, wenn er selbst im Glashaus sitzt.«
»Glaubst du, der Vater des Mädchens reist aus Arizona an, tötet eine Frau und friert sie in einen Eisblock ein, nur um sich an Mullins zu rächen?«
»Nein. Trotzdem macht es mich nachdenklich. Hatte der gute Hirte noch weitere Probleme? Und dann ist da noch das Winterfestival nächste Woche in Missoula. Weißt du, was da unter anderem ausgestellt wird?« Noch bevor Alvarez antworten konnte, fügte sie hinzu: »Eisskulpturen. Hältst du das etwa für einen Zufall? Ich denke, wir sollten die >Künstler< mal genauer unter die Lupe nehmen.« Sie schnitt eine Grimasse. Einen Moment später summte ihr Handy. Pescoli zog es aus der Tasche und warf einen Blick aufs
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