Montana 04 - Vipernbrut
völlig durcheinander. Panisch. »Das verstehe ich nicht. Unser Anwalt sagte, die Mutter käme aus irgendeiner unbekannten Stadt im Pazifischen Nordwesten. Ich dachte, er würde einen Vorort von Seattle oder eine ländliche Gegend meinen, aber wie ich schon sagte: Ich wollte nichts Genaueres wissen.«
»Menschen wechseln ihre Wohnorte.«
»Und ziehen in die Nähe ihrer lang verschollenen Kinder, um den Kontakt wieder aufzunehmen!«, empörte sie sich.
Sie klang, als stünde sie kurz davor zu hyperventilieren.
»Immer mit der Ruhe, es ist nicht so, wie du denkst.«
»Wie ist es dann, Dylan?«
»Genau das versuche ich gerade herauszufinden. Das Ganze könnte ein Missverständnis sein, also beruhige dich erst einmal, einverstanden?«
»Das fällt mir ziemlich schwer, in Anbetracht der Umstände.«
»Ich weiß, ich weiß, aber das Wichtigste ist doch, dass ich Gabe finde.«
»Ist er bei dieser Frau? Dieser >Mutter<, die ihn loswerden wollte und ihn seit sechzehn Jahren nicht gesehen hat?«, fragte sie mit hysterisch zitternder Stimme. »Was ist mit dem Vater? Ist er ebenfalls beteiligt? O mein Gott, Dylan, was geht da vor?«
»Nein, Aggie, so ist das nicht. Niemand ist irgendworan >beteiligt<. Ich war kurz davor, Gabe zu schnappen, aber er ist mir entwischt, in ein Haus eingebrochen und dann abgehauen.«
»Typisch Gabe. Was denkt er sich nur dabei? Dave und ich haben in den Nachrichten davon gehört, aber die Reporterin hat keinen Namen genannt, natürlich nicht, er ist ja noch minderjährig. Warum, um Himmels willen, läuft er nur ständig davon?«
»Weil er Angst hat. Hör zu, Aggie, bitte versuch so viel wie möglich über die Adoption von damals herauszufinden. Wer Gabes leibliche Eltern sind, auch der Vater, das könnte hilfreich sein. Vielleicht hat es aber auch gar nichts zu bedeuten.«
»Ich will einfach nur meinen Sohn zurückhaben«, flüsterte Aggie, jetzt ruhiger.
»Und genau daran arbeite ich. Ich versuche, ihn zu finden und nach Hause zu bringen.«
»Bitte«, wisperte sie mit brüchiger Stimme. »Gabriel ist ein guter Junge. Wirklich. Das alles … das alles ist ein schreckliches Missverständnis.« Sie schniefte laut und sagte etwas Unverständliches.
»Dylan?« Daves Stimme dröhnte aus dem Hörer. »Wir werden alles tun, was wir können, hörst du? Halt uns einfach auf dem Laufenden.«
»Das werde ich.« O’Keefe legte auf. Er fühlte sich wahrhaft hundeelend. Fast hätte er den Jungen gefasst, doch dann war er ihm doch noch durch die Lappen gegangen! Mit jedem Tag, der verstrich, wurde es schwieriger, ihn zu finden.
Er überlegte, ob er Alvarez anrufen sollte, doch er würde besser noch abwarten. Bestimmt würde sie ihm das mitteilen, wenn sie etwas herausgefunden hätte. Oder nicht? Die Tatsache, dass sie womöglich die Mutter des Jungen war, verkomplizierte die Dinge enorm.
Ach, zum Teufel, wem machte er etwas vor? Alles, was mit Alvarez zusammenhing, verkomplizierte die Dinge enorm. Zumindest, was ihn anbetraf. Zu behaupten, er gerate in einen Gefühlskonflikt, wann immer er an sie denke, wäre die Untertreibung des Jahrzehnts.
Bilder von der Frau, die so viel Leidenschaft in ihm weckte, schossen ihm durch den Kopf. Beunruhigt zog er seine Jacke über und steckte das Handy ein, dann nahm er seine Pistole aus der Nachttischschublade.
Er musste sich an die Arbeit machen. Und ja, er würde sich mit Selena Alvarez auseinandersetzen müssen, egal, ob ihm das gefiel oder nicht.
Es gefiel ihm nicht.
Vielleicht aber, so dachte er zynisch, als er die Motelzimmertür hinter sich absperrte und seinen Jackenkragen gegen den eisigen Wind aufstellte, hatte er sich diesbezüglich die ganze Zeit über etwas vorgemacht.
»Was zum Teufel soll das? Warum hat man uns darüber nicht informiert?«, donnerte Sheriff Dan Grayson. Flankiert von Alvarez und Pescoli, stand er vor dem Fernseher, der an der Wand des Besprechungsraums hing.
Auf dem Bildschirm war Ray Sutherland zu sehen, der zusammen mit seinen beiden Söhnen auf dem Parkplatz vor seinem Wohnkomplex stand. Er hatte den beiden Teenies einen Arm um die Schultern gelegt. Die Jungs wirkten traurig, verstört, und sie sahen so aus, als wären sie lieber überall anders auf der Welt als vor dieser Kamera. Schnee sammelte sich auf den Schildern ihrer Baseballkappen und den Schultern ihrer XXL-Jacken, beide hatten den Blick abgewandt. Ganz anders ihr Vater: Er schaute direkt in die Kamera. Hinter Ray waren mehrere geparkte Autos im dichten
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