Montana Creeds - Soweit die Sehnsucht trägt (German Edition)
schon zuvor hier gesehen, und auch wenn sie ihn nicht kannte, musste man kein Genie sein, um ihm anzusehen, dass er nicht aus dem Ort war. Zwar gab es in der Schule den einen oder anderen Rebellen, aber es waren überwiegend die Kinder von Farmern oder Ranchern, die die Highschool in Stillwater Springs besuchten, und die trugen Jeans und Stiefel. Auch wenn ein paar von ihnen sicherlich Marihuana rauchten, war Bier immer noch die beliebteste Freizeitdroge.
Sie war müde.
Sie hatte Hunger.
Sie wollte nach Hause zu Dylan und Bonnie. Ja, auch zu Bonnie, obwohl die Kleine ihr am Nachmittag fast den letzten Nerv geraubt hätte.
Vielleicht war das der Grund, warum sie sich dem Jungen näherte. “Wir schließen bald”, sagte sie in einem Tonfall, der ihn weder von weiteren Besuchen abhalten noch ihm das Gefühl geben sollte, dass er hier nicht willkommen war.
“Ich will nur nach meinen E-Mails sehen”, erklärte er.
Am Hals war eine tätowierte Spinne zu sehen, und er hatte Piercings in den Ohren, den Augenbrauen und sogar in der Unterlippe, was Kristy innerlich schaudern ließ.
“Okay”, meinte sie.
Er loggte sich am ersten Computer ein, dem neuesten Modell in der Bibliothek, das aber auch schon veraltet war.
“Kenne ich dich von irgendwoher?”, fragte sie ihn.
Der Junge drehte sich zu ihr um und betrachtete sie neugierig. Eine so ernste Miene, so erwachsene Augen in einem so jungen Gesicht. “Ich komme ab und zu her”, gab er zurück. Was so viel hieß wie:
Verziehen Sie sich! Ich bin beschäftigt.
Dennoch blieb sie in seiner Nähe. Sie konnte einfach nicht anders.
Er konzentrierte sich wieder auf den Computer, seine Finger wirbelten über die Tastatur.
Plötzlich wandte er sich ihr erneut zu. “Wollen Sie was von mir?”
Kristy schüttelte den Kopf, blieb aber stehen. “Wie heißt du?”, fragte sie.
“Davie McCullough”, antwortete er, während seine blauen Augen ihr Namensschild betrachteten. Jedenfalls hoffte sie, dass er auf das Namensschild starrte. Immerhin befand sich das Ding genau über ihrer rechten Brust, und sie widersetzte sich dem dringenden Wunsch, es ein Stück weiter nach oben zu versetzen. “Und Sie?”
Sie erwiderte nichts.
Abermals konzentrierte er sich auf den Computer und ließ sie auf eine Art wissen, dass sie ihn in Ruhe lassen sollte, wie nur Teenager sie beherrschten.
Schließlich aber gab er auf. “Okay, Sie haben gewonnen, ich gehe schon.”
“Du kannst morgen gern wiederkommen”, erklärte sie. “Wir haben ab neun Uhr geöffnet.”
“Ja, klar”, meinte er spöttisch und steuerte auf die Ausgangstür zu.
Kristy atmete tief durch und nahm all ihren Mut zusammen. “Gravesitter?”, fragte sie.
16. KAPITEL
“W ie bitte?”, fragte Davie. Falls er den Namen wiedererkannt hatte, falls er tatsächlich Gravesitter war, dann ließ er sich davon nichts anmerken.
“Nicht so wichtig”, sagte Kristy und lächelte ihn schwach an.
Kaum war Davie gegangen, schloss sie ab, drehte das
Offen
-Schild um, damit es
Geschlossen
anzeigte. Normalerweise wäre sie jetzt ins Büro geeilt, um ihre Handtasche und jene Bücher zu holen, die sie selbst auslieh, und dann hätte sie das Gebäude durch die Hintertür verlassen. Je länger sie blieb, umso größer war das Risiko, dass noch jemand anklopfte und durch die Tür wehleidig auf sie einredete, sie möge doch für “nur ein Buch” noch einmal aufschließen. Aus diesem einen Buch wurden in aller Regel mehrere Bücher, von denen jedes mit großer Sorgfalt ausgewählt wurde.
An diesem Abend jedoch blieb sie an der Tür stehen und sah Davie McCullough nach, wie der mit gesenktem Kopf und den Händen in den Manteltaschen davontrottete. Er schien in seinem weiten Mantel zu verschwinden, je weiter er sich von der Bibliothek entfernte, so als würde der Stoff ihn verschlucken.
Es war noch nicht dunkel, als Kristy nach Hause kam – bis die Sonne untergegangen war, würde es noch eine Weile dauern –, aber in der Küche brannte Licht, und dieser Schein wärmte ihr Herz.
Dylan, Bonnie, Sam und Winston warteten auf sie.
Eine in sich geschlossene Welt, umgeben von den Mauern eines einzelnen Hauses in einer entlegenen Stadt in Montana.
Sie ging schneller.
Ihr Daheim war kein Haus oder ein Stück Land, sondern ein Mann, ein kleines Mädchen, eine Katze und ein Hund. Wo immer die vier sich befanden, da war Kristys Zuhause.
Am Gartentor blieb sie stehen und genoss den Augenblick – diesen
Moment
und diesen
Ort
. Das
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