Montgomery & Stapleton 05 - Das Labor des Teufels
Das war aber im Moment nicht der Fall. Er war völlig aufgelöst, weil seine Mutter im Krankenhaus war, und wollte ihre Hand nicht loslassen. Darlene war überrascht, als Paul mit dem Kleinen im Schlepptau aufgekreuzt war, weil die Vorschriften besagten, dass Kinder unter zwölf Jahren nicht zum Besuch mitgebracht werden durften. Stephen war zwar groß, sah aber nicht wie zwölf aus. Doch Paul hatte erklärt, dass Stephen gebettelt habe, mitkommen zu dürfen, bis Paul eingewilligt und sich gedacht hatte, dass es ein Leichtes sein müsste, diese Altersvorschrift zu umgehen, und die Stationsschwestern sicher ein Auge zudrücken würden.
Zuerst war Darlene froh gewesen, Stephen zu sehen, doch jetzt machte sie sich Sorgen, dass er einen Wutanfall bekommen würde, wenn Paul das Thema Abschied falsch anging. Paul versuchte seit einer halben Stunde zu gehen und war verständlicherweise frustriert. Mit einigen Schwierigkeiten konnte Darlene ihre Hand aus der ihres Sohnes lösen, legte einen Arm um dessen Hüfte und zog ihn zu sich an die Seite ihres Bettes.
»Stephen«, begann sie sanft. »Erinnerst du dich, dass wir gestern schon darüber geredet haben? Mama musste sich operieren lassen.«
»Warum?«
Darlene sah zu Paul auf, der die Augen verdrehte. Beide wussten, dass die Situation auf Stephen bedrohlich wirken musste und er nicht so schnell klein beigeben würde. Darlene hatte ihm am Wochenende alles erklärt, doch scheinbar hatte er nichts davon verstanden.
»Ich musste mein Knie reparieren lassen«, fuhr Darlene fort.
»Warum?«
»Erinnerst du dich an letzten Sommer, als ich mir beim Tennis mein Knie verletzt habe? Dort ist ein Band gerissen. Der Arzt musste mir ein neues dranmachen. Jetzt muss ich über Nacht hier bleiben. Morgen Abend komme ich nach Hause, ja?«
Stephen mied den Blick seiner Mutter und drehte eine Ecke des Bettlakens zwischen seinen Fingern.
»Stephen, du müsstest schon längst im Bett liegen. Du musst mit Papa nach Hause, und wenn du aufwachst, ist der Tag, an dem ich nach Hause komme.«
»Ich will, dass du heute Abend nach Hause kommst!«
»Das weiß ich«, beruhigte ihn Darlene. Sie beugte sich hinüber und umarmte ihn. Doch dann zuckte sie zusammen und stöhnte leise, weil sie das operierte Bein zu sehr bewegt hatte. Es war in einem Apparat mit Motor fixiert, der langsam, aber kontinuierlich das Gelenk beugte.
Paul trat ans Bett und legte die Hände auf die Schultern seines Sohnes, der sich bereitwillig vom Bett fortziehen ließ. Er hatte seine Mutter stöhnen hören.
»Alles in Ordnung?«, fragte Paul seine Frau.
»Ja«, stöhnte sie und legte sich wieder gerade hin. »Ich muss nur das Bein stillhalten.« Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Der Schmerz ließ nach.
Paul nickte in Richtung des Geräts. »Das ist schon ein aufwändiges Ding. Zum Glück sind wir diesen Herbst zu AmeriCare gewechselt. Ansonsten hätte die Operation unser Bankkonto gesprengt.«
»Du willst doch damit nicht sagen, dass ich den Eingriff nicht hätte machen lassen sollen, oder?«
»Nein, so ein Quatsch! Ich denke nur, unsere alte Versicherung hätte nicht alles übernommen. Erinnerst du dich an die komplizierten Teilübernahmeregelungen und an den ganzen Unsinn, den wir jedes Mal ausfüllen mussten, wenn wir was beantragt haben? Hey, ich bin doch nur froh, dass alles bezahlt wird.«
Das kleine Intermezzo mit der Schmerzattacke schien eine große Wirkung auf Stephen zu haben. Jedenfalls überzeugte es ihn, dass seine Mutter im Krankenhaus bleiben musste. Schon ein paar Minuten später, als Paul wiederholte, dass sie jetzt gehen müssten, ließ er sich problemlos nach draußen führen.
Und plötzlich war Darlene alleine. Während des Abends war auf dem Flur immer Betrieb gewesen, doch jetzt herrschte Stille. Niemand ging an ihrer offenen Tür vorbei. Was sie nicht wusste, war, dass alle Pfleger und Pflegehelfer von der Abend- und der Nachtschicht im Schwesternzimmer saßen, wo die Übergabebesprechung stattfand. Aus der Ferne war nur das leise Piepsen eines Herzüberwachungsgeräts zu hören.
Darlene ließ ihren Blick durchs Zimmer schweifen, über die schlichte Einrichtung, den Blumenstrauß von Paul auf der Kommode, die selleriegrüne Farbe der Wände und den gerahmten Druck von Monet. Sie erschauderte bei dem Gedanken, welche Kämpfe um Leben und Tod sich in diesen vier Wänden schon abgespielt haben mochten, doch sie versuchte ganz schnell, an etwas anderes zu denken. Das war nicht leicht.
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