Montgomery & Stapleton 07 - Die Seuche Gottes
Als er heute Morgen um zehn noch nicht aufgetaucht war, da hatte Amy bereits befürchtet, dass etwas nicht stimmte. Paul Yang war im Allgemeinen, wie die meisten Buchhalter, ein sehr zuverlässiger und systematischer Mensch, es sei denn, er hatte getrunken. Und genau das bereitete ihr Sorgen. Als Stunde um Stunde verstrichen war, ohne dass er zur Arbeit gekommen wäre oder angerufen hätte, da war sie irgendwann zu der Überzeugung gelangt, dass er wieder einmal einen seiner Abstürze veranstaltet hatte, wie damals, in der Zeit vor Angels Healthcare, und das machte sie traurig. Es war damals auch für sie eine schwierige Zeit gewesen, weil sie sich ständig irgendwelche Ausreden für sein Fehlen hatte ausdenken müssen. Bei einer Gelegenheit hatte sie ihn sogar eigenhändig aus irgendeiner verwanzten Absteige herausgeholt.
Nach diesem Vorfall hatte er jedoch eine Art Bekehrung erlebt und glücklicherweise von einem Tag auf den anderen keinen Alkohol mehr angerührt. Nur Amy wusste von seinen regelmäßigen Besuchen bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker. Sie hatte gehofft, dass er nie wieder einen Tropfen trinken würde, aber jetzt, um 17.30 Uhr, war sie sich sicher, dass er einen Rückfall erlitten hatte.
Falls ihre Befürchtung richtig war – und davon war sie längst überzeugt –, dann waren garantiert dieses dämliche Acht-K-Formular und das ganze Hin und Her, ob es denn nun abgeschickt werden sollte oder nicht, daran schuld. Sie wusste, dass er sich sehr viele Gedanken darüber gemacht hatte, weil er ihr nämlich ausdrücklich davon erzählt hatte, aber er hatte ihr nicht verraten, was genau ihn daran so fürchterlich nervös machte. Amy war keine Buchhalterin, ja, sie war nicht einmal eine ausgebildete Sekretärin. Das meiste hatte sie sich selbst beigebracht, auch wenn sie auf der Highschool die entsprechenden Kurse belegt hatte und außergewöhnlich gut mit dem Computer umgehen konnte.
Eines Tages, nachdem sie das Acht-K auf Pauls Laptop ausgefüllt hatte, hatte er sie in sein Büro gerufen und ihr dann, als handele es sich um ein wichtiges Geheimnis, einen USB-Stick überreicht.
»Bewahr das hier gut auf«, hatte er im Flüsterton gesagt. »Am besten, du versteckst es irgendwo. Ich habe auch die Webseite der Börsenaufsicht in einer Extradatei abgespeichert.«
»Aber wieso?«, hatte sie gefragt.
»Frag nicht! Bewahr es einfach auf, für den Fall, dass mir etwas zustoßen sollte.«
Amy konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie ihm in die Augen geschaut hatte. Er war so melodramatisch gewesen, dass sie gedacht hatte, er wollte sich einen Scherz mit ihr erlauben, denn einen gewissen Sinn für Humor hatte er. Aber dann war ihr klar geworden, dass das Ganze kein bisschen scherzhaft gemeint war, denn er hatte sie hinausgeschickt und diesen USB-Stick nie wieder erwähnt.
Jetzt, wo sie sich auf den Heimweg machen wollte, klappte sie ihre Handtasche auf, holte das Speichermedium heraus und schaute es an, als rechnete sie damit, dass es anfing, mit ihr zu reden. Sie fragte sich unwillkürlich, ob Pauls Nichterscheinen vielleicht ein Anlass war, seinen Auftrag auszuführen und das Acht-K-Formular abzuschicken. Er war damals nicht näher darauf eingegangen, was das bedeuten sollte: »Für den Fall, dass mir etwas zustoßen sollte«. Sicherlich konnte man darunter auch eine Sauftour verstehen, aber Amy war sich einfach nicht sicher. Sie ließ den USB-Stick in die kleine Seitentasche zurückgleiten und klappte ihre Handtasche zu. Ihr letzter Gedanke, bevor sie das Büro verließ, war, ob sie vielleicht bei ihm zu Hause anrufen sollte. Damit quälte sie sich schon den ganzen Tag lang herum, ohne dass sie zu einer Entscheidung kam. Sie hatte sogar schon überlegt, ob sie eine seiner ehemaligen Geliebten anrufen sollte, deren Nummer sie immer noch besaß, hatte sich aber dagegen entschieden. Er hatte schließlich, soweit sie wusste, seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr mit ihr gehabt. Seufzend beschloss sie, lieber nichts zu machen, als irgendetwas zu unternehmen, was die ganze Situation noch verschlimmerte. Damit schaltete sie die Schreibtischlampe aus und verließ ihr Büro.
»Was, zum Teufel, ist denn da los?«, fragte Carlo kopfschüttelnd. Er stand vor einem Rätsel.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, meinte Brennan.
Carlo und Brennan saßen in Carlos schwarzem GMC Denali am rechten Fahrbahnrand der Fifth Avenue auf Höhe der Grand Army Plaza. Direkt rechts von ihnen befand sich die
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