Montgomery & Stapleton 08 - Die Hand des Bösen
Varanasi?«, fragte Arun.
»Wie gesagt, es ist sehr interessant«, erwiderte Laurie. »Aber für meine westlich geprägten Sinnesorgane einfach zu viel.«
»Ich komme mir vor, als wäre ich gleichzeitig in verschiedenen Jahrhunderten«, meinte Jack. Er sah gerade einen Inder in der Nähe sein Handy zuklappen.
Die Bootsfahrt sollte sich als gute Idee erweisen. Während die Nacht hereinbrach, schipperten sie gemütlich kreuz und quer am Ufer entlang, fasziniert von dem bunten Treiben bei den Ghats, aber besonders angezogen vom Manikarnika-Ghat mit seinen zehn bis zwölf Feuerstellen. Nur in Umrissen waren Gestalten zu erkennen, die die Feuer schürten und Funkenregen und Rauchwolken an den nächtlichen Himmel steigen ließen. Überall am Ufer lagen riesige Brennholzstapel, darunter auch wertvolles Sandelholz.
Nur wenige Meter oberhalb der Holzstapel befand sich die Grube, in der die Scheiterhaufen errichtet wurden. Von dort führte eine Treppe hinauf bis zu einer glatten Steinmauer, und darüber ragte ein frei tragender Balkon hervor, der zu einem mächtigen Tempelkomplex mit einem spitz zulaufenden Turm gehörte. Neben dem Tempel stand ein heruntergekommener Palast mit einer defekten Turmuhr. Dank der Feuer und des hektischen Treibens bot sich ein geradezu apokalyptisches Bild.
Es war fünfunddreißig Minuten nach zehn, als Lauries Handy klingelte. Sie schaute auf das Display, erkannte eine indische Nummer und gab das Handy an Jawahar weiter.
Jawahar sprach auf Hindi, allerdings nur sehr kurz. Dann gab er Laurie das Handy zurück.
»Ihre Leichname sind eingetroffen«, berichtete er. »Der Brahmane hat sie in einen kleinen Tempel neben dem großen Balkon schaffen lassen, den Sie von hier aus sehen können. Er hat gesagt, wir sollen sofort kommen.«
»Also dann, nichts wie los«, meinte Laurie.
Der Bootsmann brachte sie ans Ufer, und Jawahar wies sie darauf hin, dass sie am Scindia-Ghat aussteigen mussten, weil am Ufer des Manikarnika-Ghats und in der Nähe der Feuerstellen keine Frauen zugelassen waren.
»Warum denn das, um alles in der Welt?«, wollte Laurie wissen.
»Damit sich die Frauen nicht auf die Scheiterhaufen ihrer verstorbenen Ehemänner werfen«, erwiderte Jawahar. »Witwen hatten es im traditionellen Indien alles andere als leicht, und noch heute gibt es welche, die den alten Brauch wieder aufleben lassen wollen.«
Bei der Landung betrachteten Jack und Laurie voller Faszination den gewaltigen Shiva-Tempel, der sich ein wenig zur Seite geneigt und halb versunken aus dem Ganges erhob. Zusammen mit Arun gingen sie bewundernd darauf zu, während Jawahar den Handel mit dem Bootsmann abschloss.
Auf dem Weg vom Scindia-Ghat zum Manikarnika-Ghat mussten sie ein Stück durch die Altstadt gehen, die sich auf die gesamte Länge von sechs Kilometern hinter den Ghats hinzog. Kaum hatten sie sich ein Stück vom Wasser entfernt, bekam die Stadt mit ihren düsteren, klaustrophobischen, verschlungenen, nur einen Meter breiten Pflastersteingassen einen mittelalterlichen Charakter. Im Gegensatz zur seidigen Kühle des Ganges-Ufers waren sie nun von übel riechender Hitze und dem Gestank nach Urin und Kuhdung umgeben. Außerdem war alles voller Menschen, Kühe und Hunde. Laurie wollte sich nur noch in ein Schneckenhaus zurückziehen, um nur ja nichts berühren zu müssen. Wegen des Gestanks hätte sie am liebsten nur durch den Mund geatmet, aber gleichzeitig hatte sie Angst, sich mit irgendwelchen Krankheiten anzustecken, also atmete sie doch lieber wieder durch die Nase. Selten hatte sie sich so unwohl gefühlt, während sie hinter Jawahar hertrippelte und verzweifelt versuchte, nicht in irgendwelche Kothaufen zu treten.
Gelegentlich wurde die beklemmende Atmosphäre aufgelockert, wenn sie zum Beispiel an einem erleuchteten Restaurant, einem geöffneten Geschäft oder einem mit einer einzelnen Glühbirne beleuchteten Bhang-Stand vorbeikamen. Aber davon abgesehen war es dunkel, heiß und stinkig.
»So, hier ist die Treppe«, sagte Jawahar und blieb so unvermittelt stehen, dass Laurie in der Dunkelheit von hinten mit ihm zusammenstieß. Sie entschuldigte sich, aber er winkte ab.
»Diese Treppe führt hinauf auf diesen großen Balkon. Ich rate Ihnen, immer dicht beisammen zu bleiben. Wir wollen ja niemanden verlieren.«
Als ob irgendjemand aus ihrem Grüppchen Lust hätte, hier in der Gegend herumzuspazieren!
»Dort oben befinden sich zahlreiche Herbergen«, fuhr Jawahar fort. »Jede wird von einem Brahmanen
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