Montgomery & Stapleton 08 - Die Hand des Bösen
nicht einfach. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Er musste ununterbrochen an Veena und Samira denken. Sein Respekt vor den beiden war enorm gestiegen. Jetzt, wo er selbst seinen ersten Patienten schlafen legen sollte, wurde ihm klar, dass das sehr viel aufreibender war, als er gedacht hatte, vor allem, weil Samira ihm erzählt hatte, das Ganze sei ein Klacks. Von wegen Klacks, dachte er missmutig.
Er machte die Tür einen Spaltbreit auf, und da er niemanden sehen oder hören konnte, noch ein Stück mehr und streckte langsam den Kopf hindurch. Dann schaute er links und rechts den Flur entlang. Bis auf die beiden Krankenschwestern, die in ziemlich weiter Ferne am Stationstresen standen und sich mit einem gehfähigen Patienten unterhielten, konnte er niemanden erkennen. Sie waren so weit entfernt, dass ihre Stimmen kaum zu hören waren. In der anderen Richtung lagen auf jeder Seite des Flurs nur noch je drei Krankenzimmer, dann endete er in einem Wintergarten. Genau wie in dem Wintergarten am anderen Ende des lang gestreckten Korridors standen dort zahlreiche Pflanzen und Sessel für die Patienten, die ihr Zimmer bereits verlassen konnten.
Raj ließ sich Samiras Ratschlag noch einmal durch den Kopf gehen: Pass auf, dass dich niemand sieht, aber wenn du gesehen wirst, dann verhalte dich normal. Deine Pflegerkleidung spricht für sich. Pass auf, dass dich niemand sieht! Raj lachte spöttisch in sich hinein. Er war ein ziemlicher Riese und wog knapp unter hundert Kilo, da war es schon eine besondere Herausforderung, nicht gesehen zu werden, vor allem auf einem Klinikflur voller Krankenschwestern, Pfleger und Hilfskräfte, die alle ständig eine Million verschiedene Aufgaben zu erledigen hatten.
Bevor sich Raj an diesem Abend auf den Weg ins Aesculapian Medical Center gemacht hatte, hatte er Veena und Samira um Rat gebeten. Eigentlich hatte er nicht ernsthaft geglaubt, dass er Hilfe brauchen würde, daher war es mehr eine Art Respektbekundung gewesen, aber jetzt, wo er hier war, war er froh darüber. Samira hatte nämlich letztendlich doch zugegeben, dass sie nervös gewesen war, und das war gut zu wissen, denn auch er war eindeutig nervös. Veena hatte gar nichts gesagt.
Raj war der einzige Mann unter den insgesamt zwölf Pflegekräften, die bei Nurses International beschäftigt waren. Mit seiner braunen, makellosen Haut, den schwarzen, kurz geschnittenen Haaren, den dunklen, durchdringenden Augen und seinem bleistiftdünnen Schnurrbart unterhalb der leicht gebogenen Nase bildete er einen scharfen Kontrast zu seinen elf attraktiven und ausgesprochen femininen Kolleginnen. Sein auffälligstes äußeres Kennzeichen war jedoch sein Körperbau: breite Schultern, schmale Hüften und Muskelpakete. Genau so stellte man sich einen begeisterten Gewichtheber oder Kampfsportler mit schwarzem Gürtel vor, und er war beides. Trotzdem war Raj keineswegs ein typisch maskuliner Mann, genauso wenig wie er irgendwie feminin wirkte. Zumindest sah er sich nicht so. Und schwul war er auch nicht. Er war eben einfach Raj. Das Gewichtheben und der Kampfsport, die scheinbar so wenig zu ihm passten, waren ursprünglich die Idee seines Vaters gewesen, der schon früh die soziale Ader seines Sohnes erkannt hatte und ihm einen gewissen Schutz für das Leben in einer grausam unsozialen Welt mitgeben wollte. Je älter Raj wurde, desto mehr Spaß fand er am Gewichtheben. Sein muskulöses Äußeres brachte ihm eine Menge Aufmerksamkeit vonseiten seiner überwiegend weiblichen Bekannten ein. Und den Kampfsport betrachtete er viel eher als Tanz denn als aggressive Sportart.
Plötzlich hörte Raj laute Schritte auf dem Betonboden. Zu seinem unsäglichen Schrecken wurde ihm klar, dass da jemand die Treppe herunterkam, dass die Person in jedem Augenblick den Absatz zwischen dem vierten und dem dritten Stock erreicht und den im Treppenhaus lungernden Raj voll im Blick haben würde! Wenn er nicht gesehen werden wollte, dann blieben ihm nur zwei Möglichkeiten: Er konnte die Treppe wieder hinunterrennen, vielleicht bis ganz ins Kellergeschoss, oder er konnte den dritten Stock betreten und das Risiko eingehen, dort gesehen zu werden.
Raj wusste, dass er sich schnell entscheiden musste, denn die Schritte kamen immer näher. Er geriet in Panik. Das Trittgeräusch wurde hohler, als die Person den Treppenabsatz betrat. Seine Panik wurde noch größer, und Raj schob die Tür zum dritten Stock gerade so weit auf, dass er durchschlüpfen konnte.
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