Montgomery & Stapleton 08 - Die Hand des Bösen
ein mit Flüssigkeit gefüllter Plastiksack. Von Ekel erfüllt drehte Raj sich um und ergriff die Flucht. Das Problem war nur, dass er nicht weit kam. Als er die Tür zum Flur aufriss, stieß er buchstäblich mit einem Mann im weißen Mantel zusammen. Dieser wollte gerade nach der Türklinke greifen, die Raj ihm vor den Fingerspitzen weggerissen hatte.
Raj taumelte durch den Schwung bis auf den Flur hinaus, wo er den Mann mit beiden Armen umschlang, um ihn nicht über den Haufen zu rennen. »Tut mir schrecklich leid«, stammelte der verwirrte Krankenpfleger. Er hatte überhaupt nicht mit dem Zusammenstoß gerechnet, und was es noch schlimmer machte: Er kannte den Mann. Es war Dr. Nirav Krishna, der Chirurg, der David Lucas operiert hatte. Er war gerade auf seiner letzten Runde vor dem Feierabend.
»Mensch«, blaffte Dr. Krishna. »Was soll denn das? Was ist denn los, verdammt noch mal?«
Voller Panik überlegte Raj, was er darauf antworten sollte, und erkannte, dass er keine andere Wahl hatte als die Wahrheit. »Ein Notfall. Mr Lucas hat einen Notfell.«
Ohne ein Wort zu sagen, schob sich Dr. Krishna an Raj vorbei und stürmte in das Zimmer. Am Bettrand angekommen, erkannte er die beginnende Zyanose. Aus dem Augenwinkel sah er den Herzmonitor und stellte fest, dass der Herzschlag relativ normal war. Erst dann bemerkte er, dass der Patient nicht mehr atmete. Gesichtszuckungen fielen ihm nicht auf, da sie bereits wieder aufgehört hatten.
»Wir brauchen einen Notfallwagen!«, rief Dr. Krishna. Er riss die Magensonde heraus und warf sie beiseite. Dann schnappte er sich die Fernsteuerung und senkte das Kopfteil des Bettes ab. Als er sah, dass Raj wie angewurzelt stehen geblieben war, brüllte er ihn noch mal an, er solle den Notfallwagen holen. Sie würden den Patienten wiederbeleben müssen.
Raj schüttelte seine Lähmung ab, nicht aber seinen Schrecken. Er raste aus dem Zimmer und stürzte den Flur entlang bis zum Stationstresen, wo auch der Notfallwagen stand. Unterwegs überlegte er, was er jetzt machen sollte, aber etwas anderes, als Hilfe zu leisten, fiel ihm nicht ein. Der Chirurg hatte ihn erkannt, und wenn er jetzt einfach verschwand, dann würde man ihm garantiert etliche Fragen stellen.
Am Stationstresen angelangt, brüllte er den beiden Krankenschwestern am Schreibtisch zu, dass es in Zimmer 304 einen Notfall gab. Ohne anzuhalten, riss er die Tür zu dem Lagerraum auf, in dem der Notfallwagen stand, packte ihn, stürmte mitsamt dem Wagen aus dem Raum und dann, unter gewaltigem Getöse, wieder zurück zu David Lucas. Dort war mittlerweile das Licht eingeschaltet worden. Dr. Krishna war gerade mit Mund-zu-Mund-Beatmung beschäftigt, und, was Rajs Grauen noch verstärkte: Mr Lucas sah gar nicht so schlecht aus. Die Zyanose war jedenfalls zu einem Großteil verschwunden.
»Atembeutel!«, rief Dr. Krishna. Eine der Stationsschwestern, die Raj hinterhergerannt waren, schnappte sich die Atemmaske mit dem angehängten Plastikbeutel vom Wagen und warf sie dem Arzt zu. Dr. Krishna brachte den Kopf des Patienten in die richtige Position, stülpte ihm die Maske über und fing an, das Opfer zu beatmen. Jetzt hob und senkte sich der Brustkorb noch deutlicher als während der Mund-zu-Mund-Beatmung. »Sauerstoff!«, bellte Dr. Krishna. Die andere Stationsschwester brachte die Sauerstoffflasche ans Kopfende des Bettes und schloss sie zwischen zwei Pumpstößen an die Maske an. Schon nach wenigen Sekunden veränderte sich Mr Lucas’ Gesichtsfarbe dramatisch. Jetzt war sie tatsächlich pink.
All diese Aktivitäten gaben Raj die Gelegenheit, sich seiner eigenen katastrophalen Lage bewusst zu werden. Er wusste nicht einmal, ob es ihm lieber war, wenn der Patient starb oder wenn er gerettet wurde. Er wusste auch nicht, ob er sich lieber aus dem Staub machen oder bleiben sollte, und diese Unsicherheit sorgte dafür, dass er sich nicht von der Stelle rührte.
Jetzt kam auch die zuständige Ärztin der Spätschicht, Dr. Sarla Dayal, im Laufschritt herein. Sie schob sich an das Kopfende des Bettes, und Dr. Krishna fasste für sie die bisherigen Ereignisse schnell zusammen.
»Als ich hier reingekommen bin, war er eindeutig zyanotisch«, sagte er. »Die Herzüberwachung sah eigentlich ganz gut aus, aber das ist ja nur ein Kriterium. Das Problem war, dass er nicht mehr geatmet hat.«
»Was meinen Sie? Ein Schlaganfall?«, fragte Dr. Dayal. »Vielleicht ein Herzinfarkt, der einen Schlaganfall ausgelöst hat? Der Patient hat
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