Montgomery u Stapleton 01 - Blind
war, hatte sie mit etwas zu tun, das ihr noch nie begegnet war, manchmal mit etwas, wovon sie noch nicht einmal gelesen hatte. Es war eine Arbeit, die ständig Neues brachte.
An diesem Morgen war es relativ ruhig im Eingangsbereich. Ein paar Medienleute trieben sich noch herum, in der Hoffnung auf weitere Neuigkeiten im Schülerinnenmord. Der gestrige Mord im Central Park hatte die Titelseiten der Boulevardpresse und die Schlagzeilen der lokalen Morgennachrichten beherrscht.
Kurz vor der zweiten Tür blieb Laurie stehen. Auf einer der Kunstledercouches erblickte sie Bob Talbot in angeregtem Gespräch mit einem anderen Reporter. Nach kurzem Zögern trat Laurie zu ihm.
"Bob, ich möchte einen Moment mit dir reden", sagte sie. Und an seinen Begleiter gewandt, fügte sie hinzu: "Entschuldigen Sie die Unterbrechung."
Bob erhob sich eilfertig und trat ein paar Schritte mit Laurie beiseite. Seine Haltung überraschte sie. Sie hatte eigentlich erwartet, daß er kleinlaut und zerknirscht sein würde.
"Dich zwei Tage hintereinander zu sehen, ist ja fast schon ein Rekord", sagte er. "An das Vergnügen könnte ich mich direkt gewöhnen."
Laurie kam gleich zur Sache. "Ich kann einfach nicht glauben, daß du mein Vertrauen so wenig achtest. Was ich dir gestern erzählt habe, war nur für deine Ohren bestimmt."
Bob war offensichtlich betroffen von Lauries Tadel. "Das tut mir furchtbar leid. Ich wußte nicht, daß deine Mitteilung vertraulich war. Du hast nichts dergleichen gesagt."
"Das hättest du dir denken können. Man muß kein Genie sein, um sich ausmalen zu können, was dein Vertrauensbruch für mich hier bedeutet."
"Es tut mir leid", wiederholte Bob. "Es wird nicht mehr vorkommen."
"Da hast du recht, es wird nicht mehr vorkommen", sagte Laurie. Sie drehte sich um und strebte der zweiten Tür zu, ohne Bob noch zu beachten, der hinter ihr herrief. Aber auch wenn sie ihn nicht mehr beachtete, war ihr Zorn doch weitgehend verflogen. Schließlich hatte sie am Vortag die Wahrheit gesagt. Sie fragte sich, ob sie sich nicht mehr Gedanken um die sozialen und politischen Seiten ihrer Arbeit machen sollte als um Bob. Für sie lag einer der Reize der Pathologie allgemein und der forensischen Pathologie im besonderen darin, daß sie sich um die Wahrheit bemühte. Der Gedanke, aus irgendeinem Grund einen Kompromiß einzugehen, irritierte sie. Sie hoffte, nie wählen zu müssen zwischen ihren Skrupeln und politischen Überlegungen.
Nachdem Marlene Wilson ihr die Tür geöffnet hatte, begab Laurie sich direkt in den ID-Raum. Wie üblich trank Vinnie Amendola seinen Kaffee und studierte den Sportteil der Zeitung. Hätte die Zeitung nicht das heutige Datum gehabt, Laurie hätte geschworen, daß er überhaupt nicht fort gewesen war. Falls er Laurie gesehen hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Riva Mehta, die das Arbeitszimmer mit Laurie teilte, war ebenfalls anwesend. Sie hatte einen leichten indischen Einschlag, einen dunklen Teint und eine weiche, angenehme Stimme. Am Montag waren sie sich überhaupt nicht über den Weg gelaufen.
"Heute ist offenbar dein Glückstag", neckte Riva sie. Sie holte sich gerade Kaffee, bevor sie nach oben ins Büro ging. Der Dienstag war für sie Schreibtag.
"Wieso?" erkundigte sich Laurie.
Vinnie lachte kurz, ohne von seiner Zeitung aufzublicken.
"Du kriegst einen Schwimmer, ermordet", erklärte Riva. Ein Schwimmer war eine Leiche, die schon eine Weile im Wasser gelegen hatte. Im allgemeinen waren das keine sehr beliebten Fälle, da die Leichen sich meist schon in einem Zustand fortgeschrittener Verwesung befanden.
Laurie warf einen Blick auf den Arbeitsplan, den Calvin am Morgen aufgestellt hatte. Er enthielt die Autopsien für den Tag und die Namen der Mitarbeiter, die dafür eingeteilt waren. Hinter Lauries Namen standen zwei Fälle von Überdosis und ein Mord durch Erschießen.
"Man hat die Leiche heute morgen aus dem East River gefischt", sagte Riva. "Ein aufmerksamer Wachmann hat sie offenbar am South Street Sea Port vorbeitreiben sehen."
"Reizend", meinte Laurie.
"Ist nicht so schlimm", bemerkte Vinnie. "Hat nicht lange im Wasser gelegen. Nur ein paar Stunden."
Laurie nickte erleichtert. Sie mußte den Fall also wahrscheinlich nicht im kleinen Autopsieraum erledigen. Der Geruch machte ihr bei diesen Fällen weniger aus als die Isolation. Der kleine Autopsieraum lag ganz für sich auf der anderen Seite des Leichenschauhauses. Laurie war viel lieber mitten im Geschehen unter
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