Montgomery u Stapleton 01 - Blind
ausgewachsenen Eintagebart.
Als könnte er Lauries Gedanken lesen, rieb sich Lou mehrmals mit der Hand über das Kinn.
"Ich sehe wahrscheinlich wie ein Landstreicher aus", sagte er.
"Ich bin seit halb fünf auf, als die Leiche von DePasquale ans Ufer geschwemmt wurde. Hatte keine Zeit, mich zu rasieren. Hoffentlich schreckt Sie das nicht ab. Ich bin nicht darauf aus, Don Johnson aus Miami Vice nachzueifern."
"Das ist mir gar nicht aufgefallen", schwindelte Laurie. "Aber warum interessiert sich ein Detective Lieutenant für ein achtzehnjähriges Mordopfer? Gibt es irgend etwas Besonderes an diesem Fall, das ich wissen müßte?"
"Eigentlich nicht", meinte Lou. "Es ist eher eine private Sache. Bevor ich zum Lieutenant befördert wurde und zum Morddezernat kam, war ich sechs Jahre beim Dezernat Organisiertes Verbrechen. Bei DePasquale überschneiden sich diese beiden Gebiete. DePasquale war ein junger Gangster, der am Rande mit der Verbrecherorganisation der Lucia-Familie zu tun hatte. Er war zwar erst achtzehn, hatte aber schon ein langes Vorstrafenregister."
Der Aufzug hielt im vierten Stock, und Laurie bedeutete ihm, daß sie aussteigen müßten.
"Aber das haben Sie wahrscheinlich schon vermutet", fuhr Lou fort, als er Laurie auf den Gang folgte. "DePasquales Tod war eine offensichtliche Hinrichtung."
"Wirklich?" fragte Laurie. Für sie war bisher noch gar nichts offensichtlich.
"Auf jeden Fall", erklärte Lou. "Sie werden feststellen, daß er aus kurzer Entfernung mit einer kleinkalibrigen Waffe in die Gehirnbasis geschossen wurde. Es ist die übliche, bewährte Methode. Sauber und komplikationslos."
Sie betraten Lauries Büro. Laurie machte Lou mit Riva bekannt, die bereits mitten in der Arbeit steckte. Laurie holte Lou einen Stuhl und beide nahmen Platz.
"Sie haben solche Fälle schon gesehen, oder?" erkundigte sich Lou.
"Ich bin mir nicht sicher", sagte Laurie ausweichend. Aus ihrer Studienzeit wußte sie, wie man sich um eine präzise Frage herumdrückte. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, unerfahren zu sein.
"Im allgemeinen geht es dabei um Reibereien zwischen rivalisierenden Organisationen", erklärte Lou. "In diesem Fall um Reibereien zwischen den Gangsterfamilien Lucia und Vaccarro. Das sind die Hauptakteure in Queens, deren Interessen an Ort und Stelle von Bossen der mittleren Ebene, Vinnie Dominick beziehungsweise Paul Cerino, kontrolliert werden. Ich schätze, daß Paul Cerino beim Mord an dem armen Frank DePasquale die Hand im Spiel hatte, und wenn, dann würde ich nichts lieber tun als ihn mit einer Anklage festzunageln. Ich war meine ganzen sechs Jahre im Dezernat Organisiertes Verbrechen hinter dem Kerl her. Für eine Anklage hat es nie gereicht. Aber wenn ich ihn mit einem Kapitalverbrechen wie dem Mord an DePasquale in Verbindung bringen könnte, hätte ich tolle Karten."
"Dann wollen wir sehen, was wir tun können", sagte Laurie und schlug DePasquales Mappe auf.
"Wenn Sie oder Ihr Labor irgend etwas finden würden, wäre ich überglücklich", meinte Lou. "Wir brauchen einen Durchbruch. Das Problem bei Burschen wie Cerino ist, daß zwischen ihnen und den in ihrem Namen verübten Verbrechen so viele Ebenen liegen, daß wir ihnen selten etwas nachweisen können."
"Oh, wie blöd!" rief Laurie plötzlich. Sie hatte, während sie Lou zuhörte, gleichzeitig DePasquales Akte durchgeblättert.
"Was gibts?" erkundigte sich Lou.
"Sie haben keine Röntgenaufnahme von DePasquale gemacht", erklärte Laurie. Sie griff zum Telefon und wählte das Leichenschauhaus. "Wir brauchen vor der Autopsie eine Röntgenaufnahme. Das verzögert die ganze Sache leider etwas. Ich muß einen anderen Fall vorziehen. Tut mir leid."
Lou zuckte die Schultern.
Laurie bat den medizinisch-technischen Assistenten, der am Telefon war, Frank DePasquale so bald wie möglich zu röntgen. Der MTA sagte das zu. Sie hatte gerade aufgelegt, da stand Calvin Washington in der Tür.
"Laurie", begann Calvin, "wir haben ein Problem, über das Sie Bescheid wissen sollten."
Laurie erhob sich, als Calvin eintrat. "Worum gehts denn?" fragte sie. Sie merkte, daß Calvin Lou fragend ansah. "Dr. Washington, Lieutenant Soldano kennen Sie ja schon."
"Ach ja", sagte Calvin. "Machen Sie sich nichts draus. Das ist die beginnende Altersverkalkung. Wir haben uns heute morgen gesprochen." Er reichte Lou die Hand, der aufgestanden war, als Laurie ihn vorstellte.
"Bitte, nehmen Sie wieder Platz, beide", sagte Calvin. "Laurie, ich muß
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