Montgomery u Stapleton 01 - Blind
den übrigen Kollegen. Im großen Sektionssaal gab es immer einen regen Austausch. Oft lernte sie aus den Fällen der anderen genausoviel wie aus den eigenen.
Laurie schaute nach Name und Alter des Opfers. Frank DePasquale. "Der arme Kerl war erst achtzehn", sagte sie.
"Wie schrecklich. Und wahrscheinlich wird der Fall, wie die meisten dieser Morde, nie aufgeklärt."
"Wahrscheinlich nicht", meinte auch Vinnie, während er die Zeitung umblätterte.
Laurie begrüßte Paul Plodgett, der in der Tür erschien. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sie erkundigte sich, wie sich sein berühmter Fall entwickelte.
"Fragen Sie mich nicht", bat Paul. "Es ist ein Alptraum."
Laurie goß sich einen Becher Kaffee ein und nahm die drei Mappen mit den heutigen Fällen an sich. Jede Mappe enthielt einen Fallbericht, einen teilweise ausgefüllten Totenschein, eine Auflistung medizinischer Unterlagen, zwei Blätter für Autopsieanmerkungen, eine Notiz über die telefonische Mitteilung des Todes, ein ergänztes Identifizierungsblatt, einen Untersuchungsbericht, ein Blatt für den Autopsiebericht und einen Laborzettel für die HIV-Antikörper-Analyse.
Beim Durchblättern der Unterlagen stieß sie auch auf die Namen der beiden anderen Fälle: Louis Herrera und Duncan Andrews. An den Namen Duncan Andrews erinnerte sie sich noch vom Vortag.
"Das ist der Fall, zu dem Sie mich gestern befragt haben", sagte eine Stimme über Lauries Schulter. Sie drehte sich um und blickte in Calvin Washingtons pechschwarze Augen. Er war hinter sie getreten und zeigte mit dem Finger auf Andrews Namen. "Als ich den Namen gesehen habe, dachte ich, daß Sie den Fall vielleicht gern hätten."
"Ist mir recht", sagte Laurie, Jeder Pathologe hatte seine eigene Art, den Autopsietag anzugehen. Einige schnappten sich die Unterlagen und gingen sofort nach unten. Laurie hatte einen anderen Modus operandi. Sie nahm den ganzen Papierwust nach oben in ihr Büro, um sich den Tag so rational wie möglich einzuteilen. Den Kaffeebecher in der einen Hand, ihre Tasche in der anderen und die drei neuen Mappen unter dem Arm, machte sie sich auf den Weg zum Auf zug. Sie kam bis zur Telefonzentrale, als Sergeant Murphy, einer der Polizeibeamten, der dem Gerichtsmedizinischen Institut zugeteilt war, ihren Namen rief. Er kam schnell aus seinem Dienstraum, ihm folgte ein zweiter Mann. Sergeant Murphy war ein temperamentvoller, rotgesichtiger Ire.
"Dr. Montgomery, darf ich Sie mit Detective Lieutenant Lou Soldano bekannt machen", rief er stolz. "Er ist ein wichtiger Mann im Morddezernat der Zentrale."
"Freue mich, Sie kennenzulernen, Doktor", sagte Lou. Er war ein gutaussehender, mittelgroßer Mann mit dunklem Teint, markanten Gesichtszügen und lebhaften Augen, die sie intensiv anblickten. Sein Haar war auf eine Art kurz geschnitten, die zu seinem kräftigen, athletischen Körper paßte.
"Ich freue mich ebenfalls", erwiderte Laurie. "Wir bekommen hier in der Pathologie nicht sehr viele Detective Lieutenants zu sehen." Laurie fühlte sich etwas unwohl unter den eindringlichen Blicken des Mannes.
"Man läßt uns nicht allzuoft aus unseren Käfigen", erklärte Lou.
"Ich komme kaum von meinem Schreibtisch weg. Aber hin und wieder schleiche ich mich gern einmal raus, jedenfalls bei bestimmten Fällen."
"Hoffentlich macht Ihnen Ihr Besuch hier Spaß", sagte Laurie. Sie lächelte ihm zu und wollte gehen.
"Einen Moment noch, Doktor!" sagte Lou. "Man hat mir gesagt, daß Sie Frank DePasquale obduzieren. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich zusähe? Ich habe schon mit Dr. Washington gesprochen."
"Überhaupt nicht", sagte Laurie. "Wenn Sie es vertragen, seien Sie mein Gast."
"Ich habe schon ein paar Autopsien gesehen", erklärte Lou.
"Ich glaube nicht, daß es Probleme gibt."
"Gut", sagte Laurie.
Es entstand eine verlegene Pause. Einen Augenblick sagte keiner etwas. Schließlich wurde Laurie klar, daß der Mann auf eine Aufforderung wartete.
"Ich wollte gerade in mein Büro", sagte Laurie. "Normalerweise gehe ich immer zuerst die Unterlagen durch. Wollen Sie mitkommen?"
"Gern", erwiderte er.
Im Aufzug sah Laurie sich Soldano etwas genauer an. Er war ein stämmiger, athletisch wirkender, offensichtlich intelligenter Mann, dessen zerknittertes Aussehen sie etwas an Columbo erinnerte, den Fernsehdetektiv, den Peter Falk berühmt gemacht hatte. Die Bügelfalten in seiner Hose waren längst verschwunden, und obwohl es erst kurz nach acht Uhr morgens war, hatte er einen
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