Montgomery u Stapleton 01 - Blind
Laurie auf die Tür zutrat, hielt der Portier sie ihr auf und fragte höflich, ob er ihr helfen könne.
"Ich möchte den Hausmeister sprechen", sagte Laurie. Sie knöpfte den Mantel auf. Während der Portier sich mit einer altmodischen Gegensprechanlage abmühte, setzte Laurie sich auf ein Ledersofa und sah sich in der Eingangshalle um. Sie war geschmackvoll und in dezenten, gedämpften Tönen ausgeschmückt. Auf einer Kredenz stand ein großer Strauß frischer Herbstblumen.
Es fiel Laurie nicht schwer, sich Duncan Andrews vorzustellen, wie er selbstbewußt in die Halle seines Wohnhauses trat, die Post an sich nahm und auf den Aufzug wartete. Laurie warf einen Blick zu den Schließfächern hinüber, die diskret von einem chinesisch anmutenden, hölzernen Wandschirm verdeckt wurden. Sie fragte sich, welches Fach wohl Duncan gehörte und ob vielleicht Post für ihn da war.
"Kann ich etwas für Sie tun?"
Laurie erhob sich und stand einem Hispanoamerikaner mit Schnurrbart gegenüber. Auf die Brusttasche seines Hemdes war der Name "Juan" gestickt.
"Ich bin Dr. Montgomery", stellte Laurie sich vor. "Ich komme vom Gerichtsmedizinischen Institut." Sie schlug die Klappe ihrer Ledertasche zurück, um ihre glänzende Dienstmarke zu zeigen. Sie sah wie eine Polizeimarke aus.
"Was kann ich für Sie tun?" erkundigte Juan sich.
"Ich würde gern einen Blick in die Wohnung von Duncan Andrews werfen", sagte Laurie. "Ich bin mit seiner Obduktion befaßt und würde mir gern den Ort seines Ablebens ansehen."
Laurie befleißigte sich bewußt eines offiziellen Tons. In Wirklichkeit war ihr gar nicht wohl bei dem, was sie tat. Auch wenn die obduzierenden Ärzte in einigen Gerichtsbezirken den Todesort aufsuchen mußten, in New York war das nicht so. Hier hatte man diese Aufgabe den gerichtsmedizinischen Ermittlern übertragen. Aber während ihrer Ausbildung in Miami hatte Laurie des öfteren die Schauplätze aufgesucht. In New York vermißte sie die zusätzlichen Informationen, die solche Besuche brachten. Aber sie wollte Duncans Wohnung gar nicht aus diesem Grund sehen. Sie erwartete nicht, irgend etwas zu entdecken, das den Fall weiterbrachte. Sie fühlte sich eher aus persönlichen Gründen dazu gedrängt. Bei der Vorstellung, daß ein privilegierter, erfolgreicher junger Mann seinem Leben wegen einiger Augenblicke drogenbedingter Lust ein Ende gemacht hatte, mußte sie an ihren Bruder denken. Dieser Tod hatte Schuldgefühle aufgewühlt, die sie siebzehn Jahre lang unterdrückt hatte.
"Mr. Andrews Freundin ist oben", sagte Juan. "Jedenfalls habe ich sie vor einer halben Stunde hinauffahren sehen." Er wandte sich an den Portier und fragte, ob Ms. Wetherbee schon gegangen sei. Der Portier verneinte.
Wieder an Laurie gerichtet, sagte Juan: "Es ist das Apartment 7 C. Ich begleite Sie nach oben."
Laurie zögerte. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß jemand in der Wohnung sein würde. Sie wollte wirklich nicht mit einem Angehörigen der Familie sprechen, und schon gar nicht mit Andrews Freundin, Aber Juan stand schon im Aufzug und hielt die Tür für sie auf. Nachdem sie sich in ihrer offiziellen Funktion vorgestellt hatte, hatte sie das Gefühl, nicht zurückzukönnen.
Juan klopfte an die Tür von 7 C. Als nicht sofort geöffnet wurde, holte er einen Ring mit Schlüsseln von der Größe eines Baseballs hervor und suchte sie durch. Die Tür ging auf, als er gerade einen Schlüssel ins Schloß stecken wollte.
In der Tür stand eine Frau in Lauries Größe mit blondem, lockigem Haar. Über verwaschenen Jeans trug sie ein Sweatshirt. Die Wangen waren naß von frischen Tränen.
Juan stellte Laurie als jemanden vom Krankenhaus vor und entschuldigte sich dann.
"Ich kann mich nicht erinnern, Sie im Krankenhaus gesehen zu haben", sagte Sara.
"Ich bin auch nicht vom Krankenhaus", erklärte Laurie. "Ich komme vom Gerichtsmedizinischen Institut."
"Wollen Sie bei Duncan eine Autopsie vornehmen?" fragte Sara.
"Das habe ich bereits", erwiderte Laurie. "Ich wollte mir nur den Ort ansehen, wo er gestorben ist."
"Natürlich", sagte Sara. Sie trat von der Tür zurück. "Kommen Sie herein."
Laurie trat in die Wohnung. Sie wartete, während Sara die Tür schloß. Die Wohnung war geräumig. Selbst von der Diele hatte Laurie einen Blick über den weiten Central Park mit seinen kahlen Bäumen. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf über die Sinnlosigkeit von Andrews Drogensucht. Zumindest äußerlich schien sein Leben ideal gewesen zu
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