Montgomery u Stapleton 01 - Blind
Blumen anzunehmen. Aber was konnte sie tun? Sie konnte sie schließlich nicht zurückschicken.
Sie faßte in die Schachtel, nahm eine der Blüten in die Hand, atmete ihren frühlingshaften Duft ein und betrachtete das tiefe Rot. Auch wenn die Rosensendung sie verwirrte und ihr ein wenig Unbehagen bereitete, mußte sie dennoch zugeben, daß es romantisch und schmeichelhaft war.
Sie holte die größte Vase, die sie hatte, stellte die Hälfte der Rosen hinein und trug sie ins Wohnzimmer. Die Vase stellte sie auf den Couchtisch. Sie könnte sich daran gewöhnen, frische Blumen in der Wohnung zu haben, dachte sie bei sich. Die Wirkung war erstaunlich.
Laurie lief zurück in die Küche, tat den Deckel auf die Schachtel und band sie wieder zu. Wenn ein Dutzend Rosen in ihrer Wohnung so viel bewirkten, konnte sie ahnen, wie sie sich in ihrem Büro machen würden.
"Um Gottes willen!" rief Laurie, als sie auf die Uhr sah. In panischer Hast zog sie ihre Sachen aus und sprang unter die Dusche.
Es war fast halb neun, als sie im Institut ankam, eine gute halbe Stunde später als sonst. Da sie ein schlechtes Gewissen hatte, lief sie direkt zum ID-Raum, obwohl sie wegen der Rosenschachtel lieber erst in ihr Zimmer gegangen wäre.
"Dr. Bingham wünscht Sie zu sprechen", sagte Calvin, als er Laurie sah. "Aber Sie kommen im Schweinsgalopp wieder. Wir haben eine Menge zu tun."
Laurie legte ihre Tasche und die Rosenschachtel auf einen freien Tisch. Sie war verlegen wegen der Rosen, aber falls Calvin etwas vermutete, ließ er es sich nicht anmerken. Sie lief durch den Empfangsbereich zurück und meldete sich bei Mrs. Sanford. Sie dachte an ihren letzten Besuch im Büro des Chefs und war beunruhigt. Sie versuchte, sich vorzustellen, was er diesmal wollte, konnte es aber nicht.
"Er telefoniert gerade", sagte Mrs. Sanford. "Nehmen Sie doch kurz Platz. Es wird nicht lange dauern."
Laurie ging zu einer Couch hinüber, aber noch bevor sie sich setzen konnte, sagte Mrs. Sanford, daß Dr. Bingham jetzt bereit sei, sie zu empfangen.
Laurie holte tief Luft und trat in das Büro des Chefs. Als sie auf seinen Schreibtisch zuging, hatte er den Kopf gesenkt. Er schrieb. Er ließ Laurie einige Sekunden stehen und schrieb seine Notiz zu Ende. Dann blickte er auf.
Einen Augenblick sah er sie mit seinen kalten, blauen Augen an. Er schüttelte den Kopf und seufzte. "Nach monatelanger tadelloser Arbeit haben Sie offenbar eine Vorliebe für Fettnäpfchen entwickelt. Gefällt Ihnen Ihre Arbeit nicht mehr, Doktor?"
"Natürlich gefällt mir meine Arbeit, Dr. Bingham", erwiderte Laurie alarmiert.
"Setzen Sie sich", sagte Bingham. Er faltete die Hände und legte sie entschlossen auf sein Notizbuch.
Laurie setzte sich ihm gegenüber auf die Kante eines Sessels.
"Vielleicht gefällt es Ihnen dann in diesem Institut nicht", fuhr er fort. Es war halb eine Frage, halb eine Feststellung.
"Ganz im Gegenteil", erklärte Laurie. "Ich bin sehr gern hier. Wieso glauben Sie, daß das nicht der Fall ist?"
"Weil das die einzige Möglichkeit ist, mit der ich Ihr Verhalten erklären kann."
Laurie hielt seinem Blick stand. "Ich habe keine Ahnung, auf was für ein Verhalten Sie anspielen", sagte sie.
"Ich spiele auf Ihren Besuch von gestern nachmittag in der Wohnung des verstorbenen Duncan Andrews an, zu der Sie sich offenbar durch Vorzeigen Ihrer Dienstmarke Zutritt verschafft, haben. Sind Sie dort gewesen, oder hat man mich falsch informiert?"
"Ich bin dort gewesen", räumte Laurie ein.
"Hat Dr. Washington Ihnen nicht gesagt, daß wir wegen dieses Falls einem gewissen Druck aus dem Büro des Bürgermeisters ausgesetzt sind?"
"Er hat etwas in dieser Richtung geäußert, aber das, was er sagte, betraf die offizielle Todesursache."
"Sind Sie nicht auf den Gedanken gekommen, daß dies ein etwas heikler Fall sein könnte und daß Sie vielleicht in jeder Beziehung so umsichtig wie möglich sein sollten?"
Laurie versuchte sich auszumalen, wer sich über ihren Besuch beschwert haben konnte. Und warum. Bestimmt nicht Sara Wetherbee. Während sie noch nachdachte, merkte sie, daß Dr. Bingham auf eine Antwort wartete. "Ich habe nicht gedacht, daß eine Besichtigung der Wohnung irgend jemanden stören könnte", sagte sie schließlich.
"Es stimmt, daß Sie nicht gedacht haben", sagte Dr. Bingham sarkastisch. "Das ist ganz offenkundig. Können Sie mir verraten, warum Sie in der Wohnung waren? Die Leiche war ja schon weg. Und Sie hatten sogar schon die Autopsie
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