Montgomery u Stapleton 01 - Blind
fand sogar noch die Zeit, mit den verzweifelten Eltern eines an plötzlichem Kindstod gestorbenen Säuglings zu sprechen. Laurie konnte ihnen versichern, daß es nicht ihre Schuld gewesen war.
Das einzige Problem, das sich am frühen Nachmittag abzeichnete, war ein Anruf von Cheryl Myers. Sie berichtete Laurie, daß sie bei Duncan Andrews keinerlei medizinische Befunde hatte ermitteln können. Sein einziger kurzer Aufenthalt in einem Krankenhaus lag fast fünfzehn Jahre zurück, als er sich beim Footballspiel in der Schule den Arm gebrochen hatte. "Soll ich weitersuchen?" fragte Cheryl nach einer Pause.
"Ja", bat Laurie. "Es kann nicht schaden. Versuchen Sie, bis in seine Kindheit vorzudringen." Laurie wußte, daß sie auf nicht weniger als ein Wunder hoffte, aber sie wollte nichts unversucht lassen. Dann konnte sie den ganzen Fall an Calvin Washington abgeben. Sie entschied, daß Lou recht hatte: Wenn die da oben am Ergebnis drehen wollten, weil es politisch ratsam schien, sollten sie es gefälligst selbst tun.
Am späten Nachmittag kreisten Lauries Gedanken wieder um die Drogenfälle. Aus einer plötzlichen Laune heraus beschloß sie, sich anzusehen, wo Evans und Overstreet gewohnt hatten. Sie nahm auf der First Avenue ein Taxi und ließ sich zu Evans Wohnung am Central Park South in der Nähe des Columbus Circle fahren.
Als das Taxi am Ziel hielt, bat Laurie den Fahrer zu warten. Sie sprang aus dem Wagen, um sich das Gebäude in Ruhe ansehen zu können. Sie versuchte sich zu erinnern, wer noch hier in der Gegend wohnte. Irgendein Filmstar, da war sie sicher. Wahrscheinlich wohnten Dutzende von Filmstars in der Gegend. Wegen des Blicks auf den Park und der Nähe zur Fifth Avenue war Central Park South eine allererste Adresse. In Manhattan konnte man kaum besser wohnen.
Während Laurie so dastand, versuchte sie sich auszumalen, wie Robert Evans selbstsicher die Straße entlangkam, die Aktentasche in der Hand, und das Gebäude betrat, voller Vorfreude auf einen anregenden Abend. Es fiel schwer, dieses Bild mit einem so frühzeitigen und zwielichtigen Tod in Einklang zu bringen.
Laurie stieg wieder in das Taxi und nannte dem Fahrer die Adresse von Marion Overstreet: ein anheimelndes Haus aus rötlichbraunem Sandstein in der West 67th Street, nur einen Block vom Central Park entfernt. Diesmal stieg sie gar nicht aus. Sie betrachtete lediglich das schöne Wohnhaus und versuchte wieder, sich die junge Lektorin im Leben vorzustellen. Zufrieden bat sie den verwunderten Fahrer, sie zum Institut zurückzufahren.
Nach der morgendlichen Auseinandersetzung mit Bingham wegen ihres Besuchs in Duncan Andrews Wohnung hatte Laurie wohlweislich darauf verzichtet, sich in den Häusern der beiden Opfer umzusehen. Sie wollte sie sich lediglich von außen ansehen. Sie wußte nicht, warum sie den Drang verspürt hatte, es zu tun, und als sie ins Institut zurückkam, fragte sie sich, ob es nicht ein schlechter Einfall gewesen war. Der Ausflug hatte sie bedrückt, denn er ließ die Opfer und ihr Schicksal realer erscheinen.
Im Büro traf Laurie ihre Zimmerkollegin Riva. Riva beglückwünschte sie zu den wunderschönen Rosen. Laurie dankte ihr und sah die Blumen lange an. Bei ihrer augenblicklichen Gemütsverfassung wirkten sie ganz anders. Hatten sie am Morgen noch Festlichkeit verbreitet, erschienen sie jetzt eher wie ein Symbol des Schmerzes, erinnerten fast an ein Begräbnis.
Lou Soldano war immer noch gereizt, als er über die Queensboro Bridge von Manhattan nach Queens fuhr. Er kam sich wie ein Idiot vor, daß er sich so einfach hatte abspeisen lassen. Andererseits, was hatte er sich gedacht? Sie war eine Ärztin, Herrgott noch mal, auf der East Side von Manhattan aufgewachsen. Worüber hätten sie sich unterhalten sollen? Über die Mets? Die Giants? Wohl kaum. Lou war der erste, der zugab, nicht zu den gebildetsten Leuten der Stadt zu gehören. Über Kriminalistik und Sport gingen seine Interessen kaum hinaus.
"Sehen Sie manchmal Ihre Kinder?" imitierte Lou laut und bewußt affektiert Lauries Stimme. Mit einem kurzen, leisen Fluch schlug er auf das Lenkrad und drückte dabei aus Versehen auf die Hupe seines Chevrolet Caprice. Der Fahrer vor ihm drehte sich um und zeigte ihm einen Vogel.
"Ja, du auch", brummte er. Am liebsten hätte er nach unten gelangt, das Blaulicht aufs Dach gesetzt und wäre an dem Kerl vorbeigerauscht. Aber er tat es nicht. Solche Sachen machte Lou nicht. Er mißbrauchte seine Macht nicht,
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