Montgomery u Stapleton 01 - Blind
trugen die vorgeschriebene doppelte Schutzbekleidung sowie Maske und Haube. Vor ihnen auf dem Tisch lag ausgestreckt der elfenbeinfarbene nackte Körper eines jungen Mädchens. Er wurde von einem Band bläulichweißer Leuchtstoffröhren direkt über dem Tisch angestrahlt. Das Gespenstische der Szene wurde noch gesteigert durch das gurgelnde Geräusch des Wassers, das in einem Ausguß am Fuß des Tisches verschwand.
Laurie hatte das starke Gefühl, daß es besser wäre, sich umzudrehen und wieder zu gehen, doch sie kämpfte es nieder. Statt dessen trat sie auf die Gruppe zu. Sie erkannte jeden der drei Männer trotz der Vermummung mit Schutzbrille und Maske. Bingham stand auf der anderen Seite des Tisches, Laurie gegenüber. Er war ein gedrungener Mann von kleiner Statur mit breitem Gesicht und Knollennase.
"Himmelherrgott, Paul!" schnauzte Bingham. "Machen Sie zum erstenmal eine Halseröffnung? Ich habe gleich eine Pressekonferenz, und Sie pfuschen hier herum wie ein erstes Semester. Geben Sie mir das Skalpell!" Bingham nahm Paul das Instrument abrupt aus der Hand, dann beugte er sich über den Körper. Ein Lichtstrahl blitzte von der Schneide aus rostfreiem Stahl.
Laurie trat an den Tisch, stellte sich rechts neben Paul. Er wandte den Kopf, und einen Moment begegneten sich ihre Blicke. Laurie spürte, wie nervös er war. Sie versuchte, etwas Ermutigung in ihren Blick zu legen, doch Paul wandte den Kopf schon wieder ab. Laurie sah kurz zum Sektionsgehilfen hinüber, der es vermied, in ihre Richtung zu schauen. Die Atmosphäre war geladen.
Laurie blickte auf den Tisch und beobachtete Bingham bei der Arbeit. Der Hals der Patientin war mit einem etwas veralteten Schnitt eröffnet worden, der von der Kinnspitze zum oberen Brustbein lief; die Haut war abgelöst und zur Seite geschlagen. Bingham ging daran, die Muskeln um den Schildknorpel und das Zungenbein freizulegen. Laurie konnte Anzeichen eines prämortalen Traumas mit Blutung in das Gewebe erkennen.
"Was ich immer noch nicht verstehe", sagte Bingham bissig, ohne von seiner Arbeit aufzublicken, "ist, warum Sie am Tatort die Hände nicht eingepackt haben. Können Sie mir das bitte mal erklären?"
Wieder sahen Laurie und Paul sich an. Ihr war sofort klar, daß er keine Entschuldigung hatte. Sie wünschte, sie hätte ihm helfen können, aber sie wußte nicht, wie. Das Unbehagen ihres Kollegen teilend, trat sie vom Tisch zurück. Obwohl sie sich eigens Schutzkleidung angezogen hatte, um zusehen zu können, verließ sie den Sektionssaal. Es herrschte einfach zuviel Spannung, als daß es sich gelohnt hätte zu bleiben. Sie wollte die Lage für Paul nicht durch ihre Anwesenheit verschlechtern.
Nachdem Laurie die Schutzkleidung abgelegt hatte, begab sie sich wieder nach oben, setzte sich an den Schreibtisch und machte sich an die Arbeit. Zunächst versuchte sie, die drei Autopsien, die sie am Sonntag durchgeführt hatte, abzuschließen, soweit es möglich war. Der erste Fall war der des zwölfjährigen Jungen gewesen. Der zweite war eindeutig eine Überdosis Heroin, doch sie überprüfte die Tatsache noch einmal. Man hatte Drogenzubehör bei dem Opfer gefunden. Das Opfer war als heroinsüchtig bekannt gewesen. Seine Arme hatten mehrere Einstichstellen aufgewiesen, alte und frische. Auf dem rechten Oberarm war eine Tätowierung: "Geborener Verlierer." Bei der Autopsie hatte sie die üblichen Anzeichen eines Erstickungstodes mit einem schaumigen Lungenödem festgestellt. Obwohl die Ergebnisse der mikroskopischen Untersuchung noch nicht vorlagen, stand für Laurie fest, daß die Todesursache eine Überdosis und die Todesart Unfall war.
Der dritte Fall war alles andere als klar. Eine vierundzwanzigjährige Flugbegleiterin war zu Hause im Bademantel gefunden worden, nachdem sie offensichtlich im Gang vor ihrem Badezimmer zusammengebrochen war. Ihre Mitbewohnerin hatte sie gefunden. Sie war völlig gesund gewesen und am Vortag von einem Flug nach Los Angeles zurückgekehrt. Sie war nicht als Drogenkonsumentin bekannt.
Laurie hatte die Autopsie vorgenommen, aber nichts Ungewöhnliches gefunden. Sämtliche Befunde waren vollkommen normal. Beunruhigt über den Fall, hatte sie durch eine der gerichtsmedizinischen Ermittlerinnen den Gynäkologen der Frau ausfindig machen lassen. Laurie hatte mit dem Arzt gesprochen, der ihr versicherte, seines Wissens sei die Frau gesund gewesen. Er habe sie erst vor wenigen Monaten untersucht.
Da Laurie kürzlich einen ähnlichen Fall gehabt
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