Montgomery u Stapleton 02 - Das Labor
gähnte laut. Mit seinen ein Meter dreiundachtzig wirkte er recht kräftig; man sah ihm an, daß er regelmäßig Sport trieb. Wenn er zu lange am Autopsietisch stand oder am Schreibtisch hockte, hatte er immer das Gefühl, seine Muskeln verkrampften sich, vor allem betraf das seinen Musculus quadriceps. »Ich bin ganz froh, daß ich nur ein kleiner Leichenaufschlitzer bin«, sagte er und ließ seine Fingerknöchel knacken. »Willst du etwa nicht so schnell wie möglich offiziell zugelassener Pathologe werden?« fragte Chet überrascht. »Doch, natürlich will ich die Zulassung haben«, erwiderte Jack. »Das ist etwas anderes. Die offizielle Zulassung würde mich ja persönlich weiterbringen. Was mich aber nicht die Bohne interessiert, ist Supervisor-Funktionen zu übernehmen. Ich will als Gerichtsmediziner arbeiten. Jede Art von Bürokratie und Papierkrieg ist mir zuwider.«
»Junge, Junge.« Chet ließ ebenfalls seine Füße auf den Boden plumpsen. »Jedesmal wenn ich mir einbilde, dich ein bißchen zu kennen, kommst du mit einer neuen Überraschung. Jetzt teilen wir schon seit fast fünf Monaten dieses Büro, und du bist für mich immer noch ein unbeschriebenes Blatt. Ich weiß nicht einmal, wo du überhaupt wohnst.«
»Als ob dich das interessieren würde«, stichelte Jack. »Jetzt sag schon«, drängelte Chet. »Du weißt genau, was ich meine.«
»Ich wohne auf der Upper West Side«, erwiderte Jack. »Das ist kein Geheimnis.«
»In der Höhe der Siebziger?«
»Ein bißchen höher.«
»Achtziger?«
»Noch höher.«
»Du willst mir doch wohl nicht weismachen, daß du oberhalb der Neunzigsten wohnst?« fragte Chet.
»Ein bißchen schon«, gestand Jack. »Ich wohne in der 106th Street.«
»Dann wohnst du ja in Harlem.«
Jack zuckte mit den Achseln, setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und beugte sich über einen der unerledigten Fälle. »Was ist schon dabei?«
»Warum, um alles in der Welt? Es gibt in New York so viele schöne Ecken. Auch außerhalb der Stadt läßt sich’s gut leben. In Harlem - da oben muß es doch ziemlich gefährlich sein.«
»Ich seh’ das anders«, entgegnete Jack. »Dort gibt es jede Menge Sportplätze, und ein besonders guter ist gleich bei mir nebenan. Ich bin doch ein Basketball-Freak.«
»Jetzt ist mir endgültig klar, daß du verrückt sein mußt«, sagte Chet. »Die Spielfelder und diese wild zusammengewürfelten Straßenmannschaften sind doch alle von Gangs kontrolliert. Du mußt es wirklich darauf anlegen, möglichst schnell in den Himmel zu kommen. Ich fürchte, du wirst ziemlich bald auf einem unserer Tische liegen - auch ohne deine haarsträubenden Mountainbike-Touren.«
»Ich habe noch nie Probleme gehabt«, wandte Jack ein. »Immerhin habe ich die neuen Rückwände und die Beleuchtung gestellt, und die Bälle gehen auch auf meine Rechnung. Die Gang in meinem Viertel weiß das durchaus zu schätzen; sie behandeln mich sogar ziemlich rücksichtsvoll.«
Chet musterte seinen Kollegen nicht ganz ohne Ehrfurcht. Er versuchte sich vorzustellen, wie Jack mitten im schwarzen Harlem auf einem Basketballfeld hin- und herrannte. Bestimmt stach er aufgrund seines Aussehens hervor; er hatte hellbraunes Haar und einen komischen, etwas zotteligen Julius-Caesar-Schnitt. »Was hast du eigentlich gemacht, bevor du Medizin studiert hast?« fragte er.
»Ich bin aufs College gegangen«, erwiderte Jack. »Wie wohl die meisten, die später die Uni besuchen. Oder bist du etwa nicht auf einem College gewesen?«
»Natürlich war ich auf dem College«, erwiderte Chet. »Calvin hat recht: Du bist ein richtiger Klugscheißer. Du weißt genau, worauf ich hinaus will. Mit deiner Pathologenausbildung bist du doch gerade erst fertig geworden - also was hast du in der Zwischenzeit gemacht?« Er hatte diese Frage schon seit Monaten stellen wollen, doch bisher hatte sich nie eine passende Gelegenheit ergeben.
»Ich war Augenarzt«, erwiderte Jack. »Ich hatte sogar eine eigene Praxis, draußen in Champaign, Illinois. Damals war ich ein ganz konventioneller, spießiger Vorstädtler.«
»Klar«, amüsierte ich Chet. »Und ich war ein buddhistischer Mönch. Daß du mal Augenarzt warst, kann ich mir ja noch vorstellen. Immerhin habe ich jahrelang in der Notaufnahme gearbeitet - bis mir endlich ein Licht aufgegangen ist. Aber du und spießig? Das ist völlig ausgeschlossen.«
»Glaub mir, es ist wahr«, insistierte Jack. »Ich hieß damals John und nicht Jack. Du hättest mich nicht
Weitere Kostenlose Bücher